Alle an Bord des verrückten Zuges

~ SASHA ~

Ein heftiges Klopfen an der Wohnungstür trieb sie durch die verschlossene Tür am Ende des Flures zu einem zentralen Treppenhaus, das den Wohnungen auf allen Etagen zur Verfügung stand. Zev zögerte nicht einmal, er stürmte einfach durch die Tür und begann die Treppen hinaufzusteigen. Die Treppe führte zu einer Zwischenebene und führte danach immer wieder auf sich selbst zurück.

Ihr Herz schlug aufgeregt - und viel zu stark. Zev war hier! Und er berührte sie. Und… Jemand verfolgte sie. Jemand, vor dem er Angst hatte. Während sie sich darauf konzentrierte, nicht auf der Treppe zu stolpern, warf sie einen flüchtigen Seitenblick auf ihn und ihr Magen drehte sich dabei um.

Er hatte seine Mütze abgenommen und in die Gesäßtasche gesteckt, so dass sein Haar über seine Stirn in zerzauste Wellen fiel. Sie hüpften und winkten ihr fröhlich zu, als ob sie die Befreiung von der Mütze feierten. Aber sein Gesicht… sein Gesicht war eine Maske der intensiven Konzentration. Die Anspannung ließ feine Linien neben seinem schönen Mund erscheinen und seine Augen zusammenkneifen. Sein Kiefer stand leicht vor als würde er etwas - oder jemandem - widerstehen und seine Augen huschten ständig auf und ab, nach links und rechts. Jeden Zentimeter dessen, was er sah, sah er sich blitzschnell genau an, vermessen und dann verwerfen.

Er nahm die Stufen zwei auf einmal, mit einer Leichtigkeit, die ihr unter anderen Umständen den Atem gestohlen hätte.

Sasha war dankbar, dass sie als Teil ihres Entschlusses, sich über ihn hinwegzusetzen und sich wieder mit Dates zu befassen, regelmäßig trainierte. Sie war fleißig ins Fitnessstudio gegangen, hatte sich aber noch nicht an Dates herangewagt. Es schien jedoch so, als würde sich das durchsetzen.

Zev war schnell und stark - noch größer als vor fünf Jahren, schwerer, breiter und doch… irgendwie noch anmutiger. Er bewegte sich wie eine Katze, obwohl er den Vergleich hassen würde. Er hatte schon immer Katzen gehasst. Zumindest hatte er das früher getan. Er war so viel dunkler und kälter als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Was könnte sich noch an ihm verändert haben?

Er hielt ihren Arm und half ihr, die Treppe hinaufzusteigen. Doch selbst als sie schnell zu keuchen begann, atmete er gleichmäßig und seine Stirn schwitzte nicht.

Verdammter Kerl.

Nachdem sie ein halbes Dutzend Treppen gelaufen waren, begann Sasha sich feucht und klebrig zu fühlen, und ihr Atem hallte schwer in dem schmalen Treppenhaus, das abgesehen von ihren Schritten und ihrem Atem vollkommen still war.

Berichtigung: Ihre Schritte.

Wie konnte er so rennen, ohne Geräusche zu machen? Seine Stiefel mussten spezielle Sohlen haben.

"V-vor wem rennen wir?" keuchte sie, als sie über eine weitere Ebene hasteten.

"Vor meinen Kollegen," antwortete er düster.

Als sie die nächste Treppe hinaufgingen, lehnte er sich über das Geländer, ohne langsamer zu werden, dann folgte ein Fluch.

"Was ist passiert …?"

Ein seltsames Geräusch, ein Knallen und ein Ping, und das hölzerne Geländer splitterte genau dort, wo er sich eine Sekunde zuvor hingelehnt hatten.

Es brauchte einen Moment, bis Sasha realisierte, dass gerade jemand auf ihn geschossen hatte.

Sie holte tief Luft, um zu schreien, und er legte ohne zu zögern seine freie Hand auf ihren Mund, drückte seine Lippen an ihr Ohr und murmelte: "Ich lehne mich nicht nochmal rüber. Sie werden uns nicht einholen. Lauf weiter."

Sie nickte heftig und rannte weiter, aber ihr Mund stand weit offen und ihr Atem riss in ihre Kehle, sowohl vor Angst als auch vor der Anstrengung. Wurde da gerade geschossen?

"Zev!" keuchte sie. "Haben sie Rob wehgetan? Was geht hier vor?!"

"Rob ist okay. Der Kerl ist anderswo hereingekommen, ich erkläre dir alles, wenn du in Sicherheit bist." zischte er, als sie das letzte Stück Treppe erreichten und die graue Wand mit der schweren Tür sehen konnten, die zur Dachterrasse führen musste.

Zev ließ sie los, damit sie alleine weitergehen konnte und stürmte voraus, mit vollem Tempo auf die Tür zusprintend. Sasha keuchte auf, als die Tür für einen Moment seinen Aufprall schien aufzunehmen, und dann aufsprang. Ein Scharnier riss aus der Wand, als die Tür nach draußen aufschlug und gegen die Aussenwand knallte. Er fing sie mühelos mit einer Hand auf, als sie zurückprallte, und stieß sie wieder zurück, so dass sie schwankend und vibrierend stehen blieb.

Er wartete auf der anderen Seite auf sie, wobei der Wind - hier oben am Gebäude stärker und kälter- ihm die Haare in die Augen wehte. Aber er ignorierte das, nahm ihre Hand wieder, sobald sie durch die Tür gekommen war und lief um den in der Mitte aufgebauten Unterstand rum, der das Treppenhaus und einen Wartungsraum beherbergte.

Als sie das kleine, flache Dach umrundet hatten, ließ er sie los und ging zum Rand. Er blickte hinunter und fluchte, als er keine Feuertreppe fand. Das nächste Gebäude war zwanzig Meter rechts von ihnen entfernt, mit einem gefährlichen Sturz auf rissigen Zement und Mülltonnen. Zev drehte sich zu ihr um, als ob er sie für den Sturz abmessen würde.

"Was machen wir hier oben?" Ihre Stimme war zu hoch und zu angestrengt und der Wind wollte ihr die Worte stehlen, sie wegreißen, als sie sie gerade aussprach. Aber er hörte zu, seine Augen waren auf die ihren gerichtet und ihr Magen kippte erneut.

Es blieb keine Zeit, seine im Halbdunkeln erstrahlende Gestalt zu bewundern, die Art und Weise, wie das Mondlicht und die Schatten auf sein Gesicht fielen, ihn in ein scharfes Licht rückten. Denn sie waren in die Enge getrieben. In einer Falle. Das Gebäude war viel zu hoch, um sicher davon springen zu können und anscheinend ein Mann mit einer Waffe hinter ihnen die Treppe hinauf stürmte.

Eine Waffe.

Sasha erinnerte sich an die kleine Handfeuerwaffe in ihrer Handtasche, mit der sie geübt hatte und zog mit zitternden Händen die Klappe auf, um sie herauszuholen. Aber gerade in dem Moment ergriff Zev ihren anderen Arm und zerrte sie an den Rand des Gebäudes. "Komm her."

"W- was machst du?"

"Wir müssen hier raus."

"Und wie genau?"

"Ich kann dich hier rausholen, Sasha. Du musst mir vertrauen."

Er hielt kurz vor dem Rand des Gebäudes an, wo das Dach ein kleines Viereck hoch über der Gasse darunter darstellte. Wollte er, dass sie von hier herunterklettern?

Sie spähte über den Rand und kletterte dann zurück. "Nein, verdammt, nein!"