Haben Sie Angst?

Sie erreichte den Schrank, in dem sie lebte, mit neuer Hoffnung im Herzen. Auf dem Tisch stand ein Krug mit Wasser, das seit mehreren Tagen dort stand. Sie nahm ihn und trank hastig daraus. Ein Seufzer entglitt ihren Lippen. Sie schloss die Augen und setzte sich auf das Fell. Es war so angenehm, dass sie am liebsten darauf schlafen und die letzten drei Tage vergessen wollte. Ihr ganzer Körper schmerzte und ihre Haut brannte, doch sie durfte keine Zeit verlieren. Sie stand auf und ging in die Gemeinschaftsbäder, um sich zu reinigen.

Um diese Tageszeit waren die Bäder gewöhnlich verlassen, da alle mit ihren Pflichten beschäftigt waren, und so hatte sie sie für sich allein. Tania nutzte die letzten Reste ihrer Seife, um sich gründlich zu waschen. Ihr verfilztes Haar schrubbte sie sauber und nahm mehr Wasser als nötig, um den Gestank und die Krusten loszuwerden. Dann eilte sie zurück in ihr Zimmer, packte ihre Habseligkeiten in eine kleine Tasche und wählte ihr bestes Gewand aus: eine ausgefranste graue Baumwolluniform mit einem weißen Unterrock. Nachdem sie fertig war, verschloss sie die Tür ihres Zimmers und machte sich auf die Suche nach Essen in der Küche des Hauptklosters.

In der Küche unterhielten sich zwei Köche leise miteinander: Eine ältere, stämmige Frau, Ahra, die Oberköchin, und ein sehr junger Junge. Über dem Feuer hingen Töpfe, aus denen der Duft von frischem Eintopf strömte. Geschirr lag überall auf den Arbeitsflächen herum, einiges davon in der Spüle. Der Junge schnitt gerade Gemüse, während er sich mit Ahra unterhielt.

"Tania, du arme Seele!" rief Ahra, als sie Tania erblickte.

Ahra tänzelte auf Tania zu und umarmte sie fest, wobei ihr mächtiger Busen sie bedrängte. "Wo warst du nur?", fragte sie besorgt, während sie sich von Tania löste. Sie zog Tania zu einem Holztisch und ließ sie Platz nehmen. "Und du bist so blass wie ein Gespenst." Sie wies den Jungen an, Essen für Tania zu bringen.

Tania verschlang ihr Essen und lauschte der einzigen Person, die sich je in ihrem Leben um sie gekümmert hatte. Es war herzerwärmend. "Danke, Ahra", sagte sie lächelnd. Nachdem sie fertig gegessen hatte, gab sie Ahra einen Kuss auf die Wange und stürmte aus der Küche. "Ich komme nach sieben Sonnen wieder und dann reden wir."

Ahra schüttelte den Kopf, als sie Tania hinterhersah. Sie liebte dieses Kind von ganzem Herzen, das arme Waisenkind. Es gab niemanden, der für sie sorgte oder sich um sie kümmerte. Als Menkar sie das erste Mal hereinbrachte, hatte das Kind ängstlich um sich geblickt wie ein scheues Reh. Menkar hatte sie in seine Bibliothek gebracht und Ahra hatte die Schreie des Kindes gehört, aber sie hatte sich nicht eingemischt, denn sie wusste, dass der Schamane die dunklen Künste kannte. Sie wusste, dass er sie zu seiner Sklavin machte. Sie hatte gehofft, dass Tania irgendwann ihren Wolf zeigen würde, aber das Mädchen hatte nie Anzeichen ihres Wolfs gezeigt, noch roch sie nach einem. Ahra wusste, dass Tania verloren war.

Sie behielt oft Essensreste und gab sie Tania und anderen Kindern. Sie wusste, dass kinderlose Kinder wie sie selten eine vollständige Mahlzeit bekamen. Das lag nicht daran, dass es sich das Kloster nicht leisten konnte, sondern an den verdrehten Ansichten des Hohen Priesters über solche Kinder. Er hasste sie. Keiner der anderen Priester konnte seine Entscheidung anfechten. Er hatte noch nie einen wolflosen Menschen zu seinem Sklaven gemacht, doch er hatte Tania dazu gemacht. Ein Geheimnis, das sie lieber nicht erkunden wollte.

Als Tania die Auffahrt zum Wohnsitz des Hohen Priesters im Kloster erreichte, stellte sie fest, dass er noch nicht herausgekommen war und keine Kutsche sichtbar war. So stellte sie sich in den Garten unter den Schatten einer Eiche und wartete auf ihn. Menkar trat heraus, als sich die Sonne gen Westen neigte.

Eine Kutsche mit blauen Vorhängen, gezogen von zwei braun-weißen Pferden, wartete auf sie. Tania trat an die Kutsche heran und wartete mit gesenktem Kopf darauf, die Erlaubnis zu erhalten, einzusteigen.Menkar deutete auf seine beiden Begleiter, die bei den Pferden standen. Einer von ihnen hatte eine imposante graue Eule dabei. Menkar streckte die Hand aus, damit die Eule auf seinem Unterarm landen konnte, während ihre Flügel flatterten. Er streichelte die Flügel sanft. „Nomia. Mein Bote." Er warf Tania einen Blick zu. „Sie wird mir die Nachrichten bringen. Stelle also sicher, dass du jede Nacht in den Apfelhainen des Palastes bist."

„Ja, Meister."

Er hob den Arm, und die Eule flog davon. Sie schwebte über dem Himmel, kreiste zweimal über die Espen und Eichen des Klosters und flog dann nach Osten.

Der Kutscher öffnete Menkar die Tür und er stieg ein. Als Tania einsteigen wollte, vernahm sie das leise Knurren des Kutschers, das seine Verachtung dafür ausdrückte, dass sie mit dem Hohepriester in derselben Kutsche reisen musste. „Soll ich sie neben mich setzen, mein Herr?", schlug er vor und hielt sie zurück.

„Tue, was du tun sollst", erwiderte Menkar kühl. Der Mann zuckte zusammen. Er schloss die Tür hinter Tania und sprang auf den Bock. Sie hörte, wie die Diener beim Verstauen des Gepäcks im hinteren Teil des Wagens tuschelten. Sie klammerte sich fest an ihre kleine Tasche, die sie trug.

Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, konnte Tania die schweren Schritte der Pferde der vier Wächter hören, die sie auf ihrer Reise ins Königreich Draka begleiteten.

Tania saß in einer Ecke der Kutsche zusammengekauert da, die Augen in ihren Schoß gesenkt, während Menkar mit unbewegter Miene aus dem Fenster blickte.

„Hast du Angst?", fragte Menkar und zog die Vorhänge zu, als sie den Stadtrand von Cetus erreichten. Es dämmerte und sie fuhren durch die dichten Eslam-Wälder.

Tania befand sich auf einer verdeckten Mission. Wie konnte sie da keine Angst haben? Von allen Seiten drohten ihr metaphorische Schwerter. Langsam hob sie den Blick und schaute ihn an. „Ich wäre ein Narr, wenn ich keine Angst hätte, mein Herr", entgegnete sie.

„Gut", bemerkte Menkar. „Entdeckt man deine wahre Identität als Spionin, werden sie dich ohne Zögern töten und jegliche Beziehungen zu Cetus aus purer Feindseligkeit abbrechen."