Magischer Raum

Sobald Lu Jueyu einen Entschluss gefasst hatte, kam Mutter Lu mit einer Schüssel in der Hand in ihr Zimmer. Mutter Lu stellte die Schüssel auf den Nachttisch und half ihr beim Aufsetzen. Sie lehnte sich an die Wand und betrachtete die Schüssel. Darin befand sich ein Grobkornbrei, gemischt mit Süßkartoffeln. Sie kannte die Geschichten ihrer Großeltern über die Qualität von Essen und Wasser. Doch als sie das Essen sah, war sie dennoch schockiert.

Das Essen deutete darauf hin, dass die Verhältnisse ihrer Familie nicht so gut waren, wie 'sie' es sich vorgestellt hatte. In ihrer Familie wurde hart gearbeitet und gerade bei schwerer Arbeit viel gegessen. Die Familie Lu bestand aus zehn Personen.

Zu ihr und ihren Eltern gesellten sich ihr ältester Bruder und dessen Frau, die zwei Söhne hatten. Ihr zweiter Bruder und dessen Frau hatten eine Tochter. Von den zehn Familienmitgliedern hatte keines der Kinder, noch sie selbst, je auf den Feldern gearbeitet. Arbeitspunkte waren also Mangelware.

Vater Lu und ihre beiden Brüder waren kräftige Arbeiter und konnten täglich zehn Punkte verdienen. Ihre Mutter und Schwägerin schafften täglich acht bis zehn Punkte. Die Kinder sammelten Schweinekraut, um Punkte zu ergattern, konnten jedoch täglich höchstens fünf Punkte sammeln.

Obwohl sie nie selbst auf den Feldern gewesen war, hatte sie den Haushalt geschmissen und auf die Kinder aufgepasst, während die anderen arbeiteten. Jetzt war die Aussaat des Winterweizens abgeschlossen und es gab nicht viel Feldarbeit. Bald stand das chinesische Neujahrsfest bevor und sie warteten nur noch auf den Tag der Fleischverteilung, um endlich Fleisch zu essen.

Nachdem Mutter Lu sie mit einer alten Steppdecke zugedeckt hatte, reichte sie ihr die Schüssel und sagte: "Hier, iss erst mal, danach nimmst du die Medizin."

Lu Jueyu nahm die Schüssel und lächelte: "Danke, Mutter."

Mutter Lu war über den höflichen Ton überrascht, sagte jedoch nichts. Es machte sie zwar traurig, dass sich ihre Tochter entfremdet hatte, doch das war immer noch besser, als wenn sie depressiv und schweigsam gewesen wäre. Zumindest war sie jetzt gesprächig und sogar zum Lächeln bereit.

Was Mutter Lu dachte, wusste Lu Jueyu nicht, als sie einen Schluck Brei nahm. Sie aß langsam und zwang sich, den Brei aufzuessen. Aufgrund ihrer Erziehung aß sie betont langsam und ordentlich, egal wie groß der Hunger oder wie schlecht das Essen war.

Mutter Lu beobachtete sie genau und empfand, dass ihre Tochter nach dem Aufwachen wie verwandelt schien. Sie warf einen Blick auf das Muttermal an Lu Jueyus Handgelenk. Als sie das bekannte kürbisförmige Muttermal sah, tadelte sie sich innerlich für ihr Übermaß an Nachdenken.

Nachdem Lu Jueyu ihre Schüssel Brei geleert hatte, gab ihr Mutter Lu Medizin und bat sie, sich auszuruhen, dann verließ sie den Raum. Im Kang-Bett liegend hob Lu Jueyu die Hand, um ihr Muttermal zu betrachten. Erst jetzt wurde ihr der Blick ihrer Mutter bewusst. Obwohl sie Träume vom Leben 'ihrer' Selbst hatte, besaß sie nicht 'ihre' Erinnerungen. Daher kannte sie weder 'ihre' Gedanken noch 'ihre' Gewohnheiten. Es war also verständlich, dass Mutter Lu ihre Zweifel hatte.Betrachtete sie das Muttermal, dachte sie an den Jadeanhänger, den er trug. In einem Traum hatte sie ihn gesehen. Vor dem Flugzeugabsturz schien die Jade-Gurke zu leuchten. Doch ob das wahr war, wusste sie nicht, da sie zu der Zeit hohes Fieber gehabt und geträumt hatte. Vielleicht war jener Traum auch bloße Einbildung.

Bei dem Gedanken an ihn berührte sie unwillkürlich das Muttermal. Im nächsten Augenblick verschwamm alles vor ihren Augen, ihr Körper fühlte sich schwerelos an. Sie blinzelte einige Male und nahm wahr, wie sich die Umgebung um sie herum veränderte. Die Wände ihres Zimmers bestanden nun aus Holz und das Bett war warm, aber hart.

Sie tätschelte das Bett und spürte die weiche Matratze unter sich. Als sie ihren Kopf wandte, erblickte sie einen vertrauten Raum. War sie in ihre eigene Welt zurückgekehrt?

Sie richtete sich auf und betrachtete ihre dunkle, altmodische Kleidung, berührte ihre Haare und entdeckte zwei geflochtene Zöpfe. Es schien, als sei sie nicht in ihre ursprüngliche Welt zurückgekehrt. Aber warum ähnelte dieser Ort so sehr ihrem eigenen Zimmer?

Lu Jueyu betrachtete das Zimmer und war sehr verwirrt. Es sah genauso aus wie ihr Schlafzimmer, doch die Möbel waren neu. Dies konnte eindeutig nicht ihr Zimmer sein.

Obgleich sie verwirrt war, erkundete sie das Haus. Beim Öffnen des Wasserhahns in der Küche kam Wasser heraus. Sogar das Licht ließ sich einschalten. Nachdem sie das Haus in Augenschein genommen hatte, machte sie sich auf den Weg zur Tür.

Als sie durch die Tür trat und die Szenerie vor ihr sah, erstarrte sie. Offensichtlich war dies nicht ihre frühere Welt. Es war unmöglich, dass eine Wohnung einen solchen Hof besaß. Sie trat aus dem Haus heraus und drehte sich um, um es zu betrachten. Wo ursprünglich eine Wohnung gestanden hatte, befand sich jetzt ein Haus, umgeben von einem großen Grundstück.

Zur Linken des Hauses befanden sich nicht nur landwirtschaftliche Flächen, sondern auch ein Fluss, der durch das ganze Gebiet floss. Rechts erhob sich ein riesiges Gebäude, das einem Turm glich. Aufgrund der Surrealität konnte Lu Jueyu alles nur als einen Traum auffassen.

Mit dieser Einstellung ging sie zum Fluss und berührte das Wasser. Es fühlte sich kalt auf ihrer Haut an. Betrachtete sie das klare Wasser, schöpfte sie eine Handvoll heraus und kostete es. Das Wasser war erfrischend, mit einer Spur von Süße – ganz anders als das Wasser, das sie nach der Einnahme ihrer Medizin getrunken hatte. Jenes schmeckte leicht salzig und roch ein wenig moosig. Als sie es trank, musste sie fast erbrechen. Nun, da sie dieses Wasser probiert hatte, konnte sie nicht anders, als mehr davon zu trinken.

Nachdem sie getrunken hatte, wandte sie sich dem Feld zu. Zuerst dachte sie, das Feld sei leer, doch bei näherer Betrachtung stellte sie fest, dass es voll mit verschiedensten Kulturen bepflanzt war. Ihr Hauptfach an der Universität war Gastronomie, daher hatte sie ein gewisses Verständnis für Nutzpflanzen.