Risse in Wänden

Nachdem Jonah verschwunden war, legte sich eine unbehagliche Stille über den Flur. Daphne war wieder einmal allein mit ihrem Entführer, König Atticus, der sich daran erfreute, sie zu quälen und sie zu seiner Frau zu machen.

Derselbe König Atticus, der sie gerettet und geheilt hatte und der scherzte und schmollte wie ein Schuljunge, wenn sein ältester Freund ihn neckte.

Der Gedanke verursachte ihr Kopfschmerzen. Wie konnte ein Mann von einem Moment auf den anderen so unterschiedlich sein?

"Du bist so still", stellte Atticus fest. "Geht es dir gut?"

Daphne wandte ihren Blick von der Stelle, an der sie zuletzt Jonah gesehen hatte. Ihre Augen trafen die von Atticus und hielten seinem Blick ein oder zwei Sekunden stand, bevor sie blinzelte und wegschaute.

"Ich habe eben viel zu überdenken", murmelte sie.

All die Blicke, die er ihr zuwarf, wenn er dachte, sie würde nicht aufpassen, die Art, wie er scherzen konnte, wenn er im Kreise seiner Nächsten war, und auch die Sanftheit seiner Hände, als er sie geheilt hatte. Daphne hatte auch den manischen Blick in seinen Augen nicht vergessen, als sie sich selbst das erste Mal verletzt hatte.

"Du solltest nicht gehen", sagte Atticus.

Erneut war Daphne ohne Vorwarnung in seinen Armen. Diesmal entwich ihr ein keuchender Laut. So überrascht wie beim ersten Mal war sie nicht, aber es war dennoch unerwartet für sie.

"Ein wenig Vorwarnung wäre nett gewesen", brummelte sie.

Unter ihrer Berührung spürte sie das Vibrieren seines Lachens.

"Du musst immer das letzte Wort haben, nicht wahr, Sonnenschein?"

"Das liegt nur daran, dass du so ein Idiot bist."

"Das hätte ich von einer Prinzessin nicht erwartet", erwiderte Atticus und lachte. "Aber du liegst damit auch nicht falsch."

Dann blitzte ein schelmischer Schimmer in Atticus' Augen auf. Er warf Daphne leicht in die Luft – nicht hoch, nur so, dass sie für einen Moment in der Luft schwebte, bevor sie wieder in seinen Armen landete. Es hatte den gewünschten Effekt.

Ein scharfer Schrei entwich Daphnes Lippen, als sie sich fester an ihn klammerte. Ihre Arme schlangen sich sicher um seinen Hals, ihr Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben. Durch die Nähe kitzelte ihr warmer Atem seine nackte Haut.

"Und wer hätte gedacht, dass du so reizend sein könntest, wenn du dich nicht gerade zum Angriff rüstest", sinnierte Atticus.

Als Daphne realisierte, dass sie hereingelegt worden war, wich sie sofort zurück. Oder so weit es ging, während sie noch in seinen Armen war. Ihre Wangen glühten zum hundertsten Mal in dieser Nacht, Empörung und Verlegenheit durchströmten sie.

"Jetzt komm mal runter", sang Atticus, "reg dich nicht auf."

"Ich kann es kaum fassen, dass ich―", Daphne hielt inne. Sie presste die Lippen zusammen und fixierte ihren neuen Ehemann mit einem scharfen Blick.

"Nun?", hob Atticus eine Augenbraue, "raus damit."

'Ich kann es kaum glauben, dass ich je Gutes über dich gedacht habe.' Das hatte sie beinahe verraten. Aber sie konnte unmöglich sagen, was sie wirklich dachte. Daphne würde eher sterben, als zuzugeben, dass sie gut von diesem bösen Mann dachte.

"Ich habe das Bedürfnis, dich zu erwürgen", sagte sie stattdessen. Ein gewöhnlicher Mann wäre über ihre Worte entsetzt gewesen, Atticus jedoch kicherte nur und warf sie erneut in die Luft. Sie kreischte und ihre Arme griffen sofort nach seinen Schultern, um Halt zu finden.

"Was für eine Vorstellung", lachte Atticus über die Röte auf Daphnes Wangen. Wirklich, sie war allzu leicht zu necken. "Das heben wir uns für das Schlafzimmer auf."

Schlafzimmer?" Daphnes Wangen färbten sich rot. Die Eindringlinge hatten das Unausweichliche lediglich aufgeschoben. Ihre Finger krallten sich in den Stoff seines Hemdes, als sie an die Bettdecken dachte und an das, was sie erwarten würde. Ihr Körper wurde eiskalt vor Angst.

Atticus' Augen entging das nicht.

„Tja, da Jonah gerade versucht, das zu retten, was von unseren Schlafgemächern übrig ist, werdet Ihr wohl diese Nacht mit einem Gästezimmer vorliebnehmen müssen", erwiderte Atticus. "Macht Euch keine Sorgen, es wird genauso gemütlich sein wie das eigentliche Schlafgemach."

"...das glaube ich gerne", erwiderte Daphne leise. Selbst wenn sie versuchen würde, ihn zu erwürgen, hätte sie das Gefühl, dass ihre Hände dabei schneller ermatten würden als er das Zeitliche segnete.

Mit Atticus' von den Göttern gesegneten langen Beinen überquerten sie die weitläufigen Schlosskorridore in kürzester Zeit. Daphne wünschte – betete –, dass es länger dauern würde, bis sie ihr neues Schlafgemach erreichten. Bei jedem Schritt, den Atticus tat, fiel ihr Herz tiefer in die Magengrube.

Sie hielten vor einer Tür an, schlicht und unscheinbar. Doch als Atticus sie mit Magie öffnete und den Raum dahinter enthüllte, biss Daphne sich auf die Innenseite ihrer Wange.

Es war bei Weitem nicht so prunkvoll wie Atticus' ursprüngliche Gemächer. Dennoch war dieses Ersatzzimmer sicherlich immer noch viel prächtiger als viele andere Räume in ihrer Heimat. Da die Nacht bereits eingebrochen war, leuchteten nur flackernde Kerzen den Raum aus. Verzierte Möbel zierten den Raum, ebenso wie ein großes Fenster vom Boden bis zur Decke, das auf einen Balkon führte, und natürlich ein riesiges, königliches Bett.

In dem Augenblick, als sie eintraten, schloss sich der Raum hinter ihnen. Ein sanftes, dunkelviolettes Schimmern umrahmte den Türrahmen – ein weiteres Zeichen von Atticus' Wirken.

Daphne konnte nicht anders, als ein wenig zu schmollen. Für ihn war seine Magie ein Kinderspiel, so mühelos. Immer wenn sie jedoch selbst Magie einsetzte, fühlte sie sich wie ein auf dem Trockenen zappelnder Fisch – schmerzhaft nutzlos.

Noch nie hatte sie ihre eigene Unzulänglichkeit mehr verflucht als jetzt. Hätte sie nur ein einziges Element beherrscht, hätte sie fliehen können. Doch statt frei zu sein, lag sie hilflos da, während Atticus sie sanft auf ihr neues Bett legte. Sie blickte zu ihm auf, das Gesicht gerötet und der Magen voller Angst.

Atticus beugte sich vor und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Daphne hielt den Atem an, als sich ihre Blicke trafen und zu ihren Lippen weiterwanderten. Daphne errötete, während sich ungewollt die Erinnerung an ihren flüchtigen Kuss einschlich.

Sie hatte keinen Vergleichswert, doch es war ein schöner Kuss.

Seine Blicke glitten weiter nach unten zu ihrem Busen. Daphnes Herz begann zu rasen – wollte er sie etwa entkleiden? Sie hatte Flüstereien der Küchenmädchen über das gehört, was Männer gerne mit den Brüsten von Frauen anstellten – jemand so herzlos wie Atticus würde sicher für jeden ihrer Körperteile Pläne haben, neben dem Vorhaben sie zu schwängern.

Sie zuckte unter seinem Blick zusammen.

Atticus schmunzelte, als könnte er ihr Unbehagen spüren und würde sich daran weiden. Sie hielt inne und atmete tief durch. Sie würde sich regungslos auf dem Bett ausstrecken wie ein toter Fisch. Wenn es Atticus gefiel, sie zur Reaktion zu zwingen, dann war sie entschlossen, ebenso ausdruckslos zu bleiben wie die Schlossmauern.

Während die Kerzen weiter zu Stumpen schmolzen, starrte Atticus sie an. Schließlich gab Daphne nach.

"Mach es einfach und schnell", beschwerte sich Daphne. Aus Angst war Ärger über sein Zögern geworden. Sie wollte sich nicht wie eine Maus fühlen, die von einer scherzhaften Katze in die Ecke gedrängt wurde. "Warum verschwendest du Zeit?"

Atticus bewegte sich überraschend schnell und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Sie atmete tief ein und machte sich bereit. Vielleicht würde Atticus ihre Lippen erobern und ihr Kleid zerreißen – doch zu ihrer Verblüffung erhob er sich und schritt zur Tür.

Daphnes Verwirrung war ein gewaltiges Understatement. "Wohin gehst du? Lässt du mich hier allein?"

Ihre Worte trugen eine unausgesprochene Bedeutung: 'Willst du etwa nicht tun, was du angekündigt hast?'

„Warum das Unausweichliche überstürzen?" Atticus drehte seinen Kopf gerade so weit, dass Daphne sein verschmitztes Lächeln erkennen konnte. „Du wirst bald genug danach betteln. Süße Träume, mein Sonnenschein."

Dann drehte er sich um und verließ den Raum, ließ Daphne allein zurück. Ihre Wangen färbten sich vor Zorn rot, als sie realisierte, dass er sie schon wieder zum Narren gehalten hatte.

'Dieser zum Verzweifeln bringende Mann!'