Entlüftung

Arlans Morgen begann ebenfalls früh, als er in der Nacht einen Alptraum hatte. Wie Oriana konnte er nicht wieder einschlafen und verbrachte die Nacht damit, im Bett zu sitzen und auf den tickenden Zeiger der Standuhr auf der anderen Seite des Zimmers zu starren.

Tick, tack, tick, tack...

Er war erfüllt von den schrecklichsten Erinnerungen seiner Kindheit.

Obwohl fast zwei Jahrzehnte vergangen waren, schmerzten ihn diese Erinnerungen immer noch gleich stark, und obwohl er zu einem vollwertigen Erwachsenen herangewachsen war, bluteten die Wunden der Vergangenheit weiter, wobei Zorn und der Durst nach Rache sein einziges Ventil waren.

Bis er diejenigen tötete, die für den frühen Tod seiner Mutter verantwortlich waren, gab es kein Entrinnen vor den Spukbildern ihres Todes.

Ihre großen Augen, die ihn leblos anstarrten, die Tränen von Schuld und Erleichterung, die über ihr Gesicht liefen –

"Mutter, ich…"

Der Rest seiner Worte verblasste. Er wusste nicht, was er ihr genau sagen wollte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit brach schließlich der Morgen an. Die sanften Sonnenstrahlen begannen durch die Vorhänge zu dringen und erhellten die Kammer. Mit dem hereinströmenden Licht kehrte etwas Vitalität in die tiefblauen Augen des Prinzen zurück.

Er fühlte sich erleichtert. Die Nacht war vorbei. Der Albtraum war vorüber.

Niemand wusste, dass der stets so selbstbewusste und charmante Kronprinz die Dunkelheit immer verabscheut hatte, doch aufgrund seines Standes zeigte er niemandem seine Schwäche.

Er stieg aus dem Bett und bereitete sich ohne die Hilfe der Diener vor, nach draußen zu gehen. Er zog das bequemste Gewand an, das er in seinem Kleiderschrank finden konnte, und griff beim Hinausgehen nach seinem Schwert.

'Die Trainingsplätze sollten um diese Uhrzeit leer sein', dachte er, während er den Griff des Schwertknaufs fester umschloss.

Als er seine Kammer verließ, wollten die Ritter, die draußen Wache standen, ihm folgen, doch er hob seine Hand zum Zeichen, dass sie stehen bleiben sollten.

"Guten Morgen, Eure Hoheit."

Auf ihren Gruß lächelte Arlan nur kurz, bevor er seinen Weg fortsetzte. Es war nicht sein übliches gutmütiges Lächeln, sondern ein kühles, das ihnen Schauer über den Rücken jagte.

Seine Ritter, die ihn gut kannten, spürten, dass es einer dieser schlechten Tage war, an denen ihr Herr sie entweder unerbittlich drillte oder sie für kleinste Fehler scharf zurechtwies. Dieser Kronprinz war normalerweise ruhig und besonnen, doch gerade diese stille Art versetzte den Menschen in der Hauptstadt Angst.

An solchen Tagen mied man ihn lieber, und jene, die vorhatten, ihn zu kränken, dachten es sich zweimal.

Einer der Ritter verließ seinen Posten, um den Hauptmann und die anderen Ritter vor der Stimmung ihres Herrn zu warnen.

Hieb!

Stich!

Schnitt!

Auf dem Trainingsplatz schwang ein Mann mit langem aschbraunem Haar sein Schwert, als wäre er einer wilden Bestie gegenüber, und jede seiner Bewegungen war voller Tötungslust. Schönheit oder Eleganz waren in seinen Bewegungen nicht zu finden – nur reine Gewalt in seinen Schlägen, als wolle er das Bild des Mörders seiner Mutter in der Luft zerstückeln.

Arlan übte immer wieder mit seinem Schwert, bis sein Hemd vom Schweiß durchnässt war und er es zur Seite legen musste.

Hieb!

Eine Weile später kamen Imbert und Rafal an, ohne ihn zu stören, und sorgten dafür, dass niemand dem Trainingsgelände näher kommen durfte. Imbert und Rafal blieben auf Abstand und beobachteten wortlos, wie Arlan seine negativen Gefühle durch seine Schwertkunst auslebte.

Die Zeit zog sich dahin. Die straffen Linien von Arlans halbnacktem Körper glänzten vor Schweiß; seine Bewegungen wurden etwas langsamer, was auf seine Ermüdung hindeutete, doch seine Schwerthiebe blieben erschreckend brutal. Ohne innezuhalten fuhr er fort, obwohl bereits zwei Stunden vergangen waren.

Im Speisesaal warteten Herzog Rhys und Herzogin Alvera darauf, dass der Kronprinz zum Morgenessen erschien, doch er war nirgends zu sehen."Kommt der Kronprinz heute nicht zu uns?", fragte der Herzog, während er einen Blick zu seiner Frau warf.

"Das frage ich mich ebenso", antwortete sie und wandte sich an den Butler, der bereits von einem königlichen Ritter informiert worden war.

"Seine Hoheit befindet sich seit der Morgendämmerung auf dem Trainingsplatz."

Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Prinz sein Schwert übte, doch es kam selten vor, dass er es versäumte, eine Absage für das gemeinsame Essen anzukündigen. Alvera verstand die Andeutung, da sie ihren Bruder gut kannte. Sie sah ihren Ehemann an und meinte: "Lasst uns zuerst speisen."

Die Sorge seiner Ehefrau lag offen vor dem Herzog. "Er wird sich erholen. Es ist nicht das erste Mal."

Sie nickte und sie begannen zu essen.

Als das Paar mit dem Essen fertig war, begab sich der Herzog von Wimark zur Arbeit, während die Herzogin sich auf den Weg zum Trainingsplatz machte.

Sobald Alvera die Trainingshalle betrat, wurde sie vom Anblick des wuchtigen Schwertkampfs ihres Bruders begrüßt. Bereits aus der Ferne spürte sie die Heftigkeit seiner Schläge tief in ihrem Herzen.

Imbert und Rafal verbeugten sich, als sie sie erblickten. "Gegrüßt seid Ihr, Herzogin."

"Ist er tatsächlich schon seit der Dämmerung am Üben?", erkundigte sie sich, Sorge in ihren Augen für ihren Bruder.

"Ja, meine Dame. Mehr als zwei Stunden ununterbrochenes Training", antwortete Imbert mit einem besorgten Seufzer. Der kühle Ritter konnte zwar kaum etwas nachfühlen, doch als Schwertkämpfer konnte er die aufgestauten Emotionen seines Lehnsherren sehr wohl nachvollziehen.

Die drei betraten die Halle und blieben in der Nähe einer Bank stehen. Alveras Blick war stets auf ihren Bruder gerichtet. "Er wirkt, als hätte er nicht die Absicht zu pausieren, bis er umkippt."

Imbert verstand, was sie meinte. "Soll ich Seiner Hoheit dazu verhelfen, Luft abzulassen?"

Alvera nickte und Imbert schritt zur Mitte des Trainingsplatzes. Er zog sein Schwert und schwang es lässig, um sich aufzuwärmen.

Arlan, in seine eigene Welt vertieft, merkte nichts von dem Geschehen um ihn herum.

Aufeinandertreffen!

Jeder andere wäre bei diesem plötzlichen Angriff ins Straucheln geraten, aber Arlans Schwert hielt dem kräftigen Hieb des Ritters mühelos stand. Seine Schrittfolge war stabil, sein Körper bewegte sich aus reinem Instinkt.

Arlans kühler Blick zeigte nicht den geringsten Moment der Schwäche, und er nahm die Herausforderung seines Ritters an. Alvera und Rafal sahen zu, wie Arlan und sein Schutzritter sich maßen. Die lauten Geräusche ihrer aufeinanderprallenden Schwerter erfüllten das gesamte Trainingsgelände.

Ob in Kraft, Technik, Schnelligkeit oder Reaktion, Arlan war Imbert weit überlegen. Jedoch hatte Imbert den Vorteil der Erfahrung und Ausdauer. In diesem Moment wurde Arlan zurückgedrängt und zeigte immer mehr Lücken. Imbert war nicht zurückhaltend und griff jede dieser Lücken an.

Der furchtlose Ritter zeigte keine Gnade mit seinem erschöpften Herrn.

Klang!

Geräusch!

Wie erwartet endete das Gefecht mit einer Niederlage des Prinzen.

Arlans Schwert entglitt seiner Hand. Wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten wurden, fiel sein Körper nach hinten, liegen bleibend auf dem Rücken. Die Spitze des Schwerts seines Ritters war auf den Hals des besiegten Prinzen gerichtet.

Arlan schloss die Augen, während er am Boden lag, sein Oberkörper überzogen von Schweiß und Schmutz, sein Brustkorb hob und senkte sich schwer. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie erschöpft er war bis auf die Knochen.

Imbert steckte sein Schwert weg und sagte kein Wort, sondern wartete einfach darauf, dass Arlan aus eigener Kraft aufstehen würde.

Nach einer Weile des Schweigens öffnete Arlan die Augen und lächelte seinen Ritter flehend an. Imbert reichte ihm seine Hand, die Arlan ergriff, und er wurde hochgezogen.