Ich werde dich töten

Ravina und Bram marschierten durch den langen, düsteren Tunnel, der zu den Höhlen führte, in denen die Gefangenen in Ketten lagen. Der neue Gefangene bekam eine eigene kleine Höhle zugewiesen. Sie hörten das Klirren von Metallketten, ein Zeichen dafür, dass er versuchte, sie zu sprengen. Als sie eintraten, hielt er inne und ihr Blick fiel auf ihn. Er war mit entblößtem Oberkörper in der kalten Höhle, aber Ravina wusste, Kälte machte Drachen nichts aus.

Der Gefangene verharrte ruhig, seine dunklen Augen fixierten den Eingang, und er starrte sie voller Groll an. Ravina hatte es immer vermieden, diesen Kreaturen zu nahe zu kommen. Sie hatte sie stets aus sicherer Entfernung beobachtet, doch nun war sie ihnen näher als je zuvor, abgesehen von jenem einen Mal. Jenes eine Mal, das sie verfolgte. Als sie ihre Eltern vor ihren Augen verlor. Schnell schüttelte sie die Erinnerungen ab, die sie kalt und übel werden ließen. Sie wuchs in Angst. Sie wollte diese Wesen nicht fürchten. Sie würde ein Ende mit ihnen machen. Doch zuerst wollte sie ihre Schwester zurückholen.

"Wie heißt du?" fragte Bram ihn.

Ravina zuckte zusammen, als der Gefangene einen Schritt nach vorne tat, die Ketten würden ihm noch ein paar weitere erlauben. Doch sie standen außerhalb seiner Reichweite, sodass sie keine Furcht zu haben brauchte.

Bram blieb unbeeindruckt. Er hatte das schon oft genug gemacht.

"Wenn du mich zu deinem Haustier gemacht hast, kannst du mir vielleicht auch einen Namen geben." erwiderte der Gefangene.

Ein Schauer lief über Ravinas Rücken. Seine Stimme war so rau wie sein Äußeres. Sein Gesicht war von harten Linien geprägt, sein Körper von starker Muskulatur, die sich unter der Wirkung der magnetischen Kraft des Gravitoniums anspannte. Magnetzungen waren an seinen Armen und Beinen befestigt, und ein großes Stück war hinter ihm an der Wand. Die Größe der Metallplatten verriet ihr die Stärke der Kraft, der er widerstand. Er war stark.

"Ich hätte gerne deinen Namen", sagte Bram zu ihm.

"Wenn es denn sein muss." sagte der Gefangene. Sie konnte den Sarkasmus in seiner Stimme heraushören. "Mein Name ist Malachi."

Bram wollte etwas notieren, hielt dann aber inne. Warum? Kannte er diesen Namen etwa schon?

Er hob den Blick von seinem Notizbuch. "Das ist ein guter Name." sagte er. "Bote Gottes."

"Das bin ich, und ich habe eine Botschaft für dich. Du wirst bald sterben."

"Und du wirst mich töten, nehme ich an."

"Gute Vermutung." sagte der Gefangene.

Bram beachtete den Gefangenen nicht weiter und wandte sich an sie. Er nickte ihr zu, damit sie ihre Fragen stellte. Der Gefangene richtete seinen Blick auf sie, seine tiefdunklen Augen ruhten auf ihren blauen. Ravina erstarrte. Plötzlich konnte sie keinen Ton mehr herausbringen. Ihr Geist kehrte zurück zu den Schrecken, die sie mit seiner Art erlebt hatte.

"Ich verstehe...", begann er einen Schritt nach vorn zu machen, jene intensiven Augen ließen ihre nicht los.

Ravina kämpfte gegen den Schrei an, der ihr in die Kehle stieg, blieb aber still. Offensichtlich genügte ihre Wut noch nicht, die Furcht zu überwinden. Sie konnte vor der Kreatur, die sie verabscheute, keine Schwäche zeigen.

"Ich mag den Duft der Angst." sagte er. "Er erfreut mich."

Der Duft der Angst? Was war mit Schreien der Furcht? Die Schreie, die seine Art verursacht hatte.

"Das bezweifle ich nicht." sagte sie, doch es war alles, was sie für eine Weile sagen konnte. Die Zeit schien stillzustehen, und dann endlich fand sie ihre Stimme wieder. "Erkennst du mich?" fragte sie.

Er neigte nachdenklich den Kopf zur Seite und betrachtete sie spöttisch. Ravinas Gesicht verzog sich bereits vor Abscheu.

"Ich bin mir nicht sicher." sagte er, aber sie spürte, dass er das nur sagte, um sie zu ärgern.

"Warum hast du mich vorhin so angesehen?"

"Ich wollte nur gerecht sein. Du hast mich beobachtet, also habe ich dich beobachtet."

Er stand immer noch gerade, trotzte der Kraft des Gravitoniums. Seine Muskeln müssten sich eigentlich verdoppeln.

"Nutzt eure Art menschliche Frauen zur Fortpflanzung?" fragte sie direkt.

"Warum?" er hob eine Augenbraue. "Willst du eine Zuchtgefährtin werden?"

Zuchtgefährtin?

"Ich verabscheue den Gedanken, dich damit zu vergleichen. Zuchtgefährtinnen werden geehrt und respektiert, und du ... nun, ich halte dich nicht für geeignet, unsere Nachkommen zu tragen." Er musterte sie von oben bis unten, in seinen Augen lag Abscheu. "Deine Hüften sind zu schmal."

Sie starrte ihn nur an.

"Du bist zu zerbrechlich. Zu ängstlich. Ich würde lieber zu Tode geprügelt werden, als mein Blut mit eurem zu mischen." sagte er voller Abscheu."Sie haben meine Frage nicht beantwortet." Sagte sie ihm.

"Ich weiß." Erwiderte er und vergewisserte sich, dass sie verstand, dass er nur antworten würde, wenn er es wollte und wie er es wollte.

"Ihr hasst unsere Art und wollt nicht, dass sich unser Blut mit eurem vermischt, und doch wollt ihr euch mit unseren Weibchen fortpflanzen." Sie versuchte, auf andere Weise Antworten zu bekommen.

"Nun, es klingt schrecklich, sich mit denen zu paaren, die uns töten, aber es klingt auch wie die größte Rache. Werden die Mütter ihre Kinder töten? Werden die Menschen die Halbmenschen töten? Ich verstehe, warum manche das tun würden."

"Du ekelst mich an." Sie spuckte aus. Ihr war speiübel, und ihre Wut ließ sie fast erzittern.

"Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit." Sagte er und sah ihr in die Augen.

"Ich werde euch alle töten." Versprach sie ihm.

"Nein, das wirst du nicht", sagte er ruhig, aber seine Augen blitzten vor Rache. "Während ihr mit euren Experimenten beschäftigt seid, werde ich euch alle töten. Ihr werdet jede Nacht zu Bett gehen und darüber nachdenken, ob das eure letzte Nacht sein wird, und wenn die Nacht eures Todes kommt, werdet ihr euch fragen, warum ihr mich nicht früher getötet habt, bevor ich euch zu Asche verbrenne." Seine Stimme war tief und bedrohlich. "Und dann wird der Wind deine Asche verwehen. Es wird nichts mehr von dir übrig sein. Nichts!"

Ravina spürte, wie sich die Kälte von ihren Fingerspitzen auf ihren ganzen Körper ausbreitete.

"Außer vielleicht dem, den du suchst?"

Sie versteifte sich. "Weißt du, wo sie ist?"

Er seufzte. "Ich habe genug von den Fragen." Er ließ sich von dem Graviton zurückziehen.

"Warte!" Sie trat vor, aber Bram hielt sie auf, bevor sie weitergehen konnte.

"Er macht das mit Absicht. Lass uns gehen." sagte Bram.

Ravina wusste, dass er sie verspottete. Er wollte diese Information gegen sie verwenden, aber das war ihr in diesem Moment egal. Sie wollte wissen, wo ihre Schwester war.

Bram nahm sie am Arm und begann, sie wegzuführen, aber Ravina wehrte sich.

"Hör auf den alten Mann. Ihr wollt nicht wissen, wo sie ist."

Ravina zog ihren Arm weg. "Wo ist sie?"

"Vielleicht in den Armen eines Drachens oder mehrerer." Sagte er mit dem Lächeln der Bösen. "Einem Drachen ..."

"Halt's Maul, du Ungeheuer!" Sie schrie und ehe sie sich versah, führte ihre Wut sie näher zu ihm.

Er rannte schnell durch die Gegend und traf sie auf halbem Weg, aber selbst das machte ihr keine Angst. Sie wollte ihn umbringen! Sie war so nah dran. Wenn Bram sie nicht aufgefangen und weggezogen hätte, hätte die Bestie sie geholt.

Bram hatte seine Arme um sie geschlungen und trug sie fast davon, während sie schrie. "Ich werde töten! Ich werde dich zu Tode foltern! Ich werde dir zeigen, was Schmerz ist, du Ungeheuer!"

Der Gefangene war wütend, dass sie sich zuerst aus seinen Händen befreite, aber als er sah, wie sie weggezerrt wurde, während sie Drohungen schrie, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er sah sie fast überrascht an, aber Ravina war zu wütend, um sich zu fragen, warum.

Bram trug sie den ganzen Weg durch den Tunnel und ließ sie erst los, als sie weit weg waren und ihr die Drohungen ausgingen. Der alte Mann war stärker, als sie dachte.

Er setzte sie ab und schüttelte sie leicht. "Was ist los mit dir? Du hättest dich fast umgebracht?"

Tränen liefen ihr über das Gesicht. "Hast du ihn gehört? Meine Schwester..."

"Nichts ist sicher. Er wollte dir nur wehtun."

"Ich weiß es nicht. Aber wenn sie kein Zuchttier ist, dann ist sie tot." Sie wischte sich die Tränen weg und kehrte zu ihrer Gelassenheit zurück. "Sag mir, welche von beiden ist besser? Welches soll ich mir für meine Schwester wünschen?"

Bram runzelte traurig die Stirn.

"Wir haben alles geteilt. Sogar den Bauch unserer Mutter, und dann war sie eines Tages einfach weg. Wenn es ihr gut ginge, würde sie nach mir suchen. Sie würde mich nicht einfach verlassen. Sie würde die Leere fühlen, die ich fühle."

Bram legte seinen Arm um sie und führte sie zurück zum Zenith. Er war still. Er war kein Mann, der leeren Trost spendete, der sich als falsch herausstellen konnte. Er wusste, dass diese Welt, in der sie lebten, mehr schlechte als gute Dinge bereithielt.