Die Erinnerung an die Vergangenheit (Sophie)

VOR ACHT JAHREN

"Wie bedauerlich, dass sie sie in so jungen Jahren verloren hat."

"Sie haben darauf bestanden, nahe an diesem verfluchten Wald zu leben, und nun hat er sie schnell in den Tod gezogen."

"Vielleicht ist sie die Nächste."

"Still! Jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu sprechen."

Der Dorfälteste näherte sich einem jungen Mädchen, das nicht älter als zehn sein mochte. Die Nachbarn hielten es für einen Fluch, dass sie ihre Eltern so jung verloren hatte.

Das Mädchen trug dunkle Kleidung und blickte in die Ferne. Der Älteste seufzte.

Es war nicht richtig, dass ein Kind so früh vom Tod erfahren musste, besonders, wenn seine Eltern mit so vielen unerklärlichen Verletzungen gestorben waren. Deshalb wurde die Beerdigung vor ihren Augen verborgen gehalten, und man informierte sie bloß über deren Ableben.

Der ältere Mann räusperte sich und fragte sanft: "Sophie, hast du Verwandte, die dich aufnehmen können?"

"Bitte sorgen Sie sich nicht um mich, Ältester." Sophie zwang ein mutiges Lächeln hervor. "Mein Onkel wird mich in ein paar Tagen abholen. Ich habe Ihnen einen Brief geschickt, um sie über den Tod meiner Eltern zu informieren."

"Ah, dann ist es gut." Der Dorfälteste war beeindruckt, dass das junge Mädchen vorausschauend gehandelt hatte, um für sich selbst zu sorgen. Also hatte sie ihrem Onkel einen Brief geschickt? Das war wirklich gut. Der Älteste fühlte sich etwas beruhigt.

Niemand im Dorf hatte daran gedacht, Sophie selbst zu adoptieren, als ob der Fluch das ganze Dorf erfassen würde, sollten sie sich ihr zu sehr nähern. Als die Trauerzeremonie endlich vorüber war, ließen die Dorfbewohner nach und nach das alleingelassene Mädchen zurück.

Als Sophie in die jetzt leere Hütte zurückkehrte, begann sie zu weinen.

Tränen stiegen ihr in die Augen, und Sophie sank auf die Knie. Sie hockte in einer Ecke der Hütte und drückte ihre Knie an ihre Brust. Schluchzer schüttelten ihre Brust, ihre Schultern zitterten und bebten, während sie weinte.

Sophie konnte das nicht tun, als ihre Nachbarn zur Trauerfeier zusammenkamen. Sie wollte nicht, dass sie noch mehr Mitleid mit ihr hatten.

"Ich habe gelogen", würgte Sophie mit zitternder Stimme hervor.

Es gab keinen Onkel, keinen Verwandten oder andere Familie, an die sie sich wenden konnte.

Alles, was Sophie kannte und womit sie aufgewachsen war, waren ihre Eltern und dieser Wald, den die Leute für heimgesucht hielten.

Aber das stimmte überhaupt nicht.

Jeder glückliche Moment ihres Lebens war mit dem Wald verbunden, vom Gemüseanbau bis hin zum Pflücken schöner Blumen und dem Beerensammeln.

Auch wenn die Dorfbewohner glaubten, der Wald sei verflucht, hatte Sophie dort mit ihrem Vater gespielt und sich mit ihrer Mutter unterhalten. Ihre Eltern hatten sie so liebevoll verzogen. Ihr Leben war glücklich, obwohl sie kaum etwas hatten.

Es gab keine gefährlichen Wesen oder Monster, die im Wald lauerten, keine böse Hexe, die darauf aus war, sie zu verschlingen.

All die Gerüchte waren falsch. Sogar die Tiere des Waldes wagten es nicht, jemandem zu schaden. Als Sophie klein war, erinnerte sie sich, wie sie einmal einen verletzten, blutenden Wolfswelpen im Wald gefunden hatte. Anstatt ihn zu verjagen, hatten ihre Eltern sich sofort um ihn gekümmert und ihn gesund gepflegt. Das waren die Momente, die Sophies Leben hell und vollständig machten.

Aber nun… war Sophie allein.Sophie weinte so lange, bis sie einschlief.

***

Ein paar Tage später kniete Sophie auf ihren Knien und erntete das Gemüse, das ihre Eltern einst im Wald angebaut hatten.

Auch wenn sie ihre ganze Familie verloren hatte, war es schwer, einfach aufzuhören zu leben.

Zumindest war es das, was ihre Eltern wahrscheinlich für sie wollten. Sophie konnte nicht einfach alle Hoffnung aufgeben.

Sophie schaute in den Himmel und bemerkte, wie dunkel und düster er aussah. Mehrere dunkle Gewitterwolken zogen auf und es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Gewitter über den Ort hereinbrach.

"Ich muss mich beeilen", murmelte Sophie vor sich hin. Sie beeilte sich, das Gemüse und so viele Früchte, wie sie tragen konnte, in ihrem Korb zu sammeln. Als Sophie fertig war, kehrte sie in ihre Hütte zurück und tat ihr Bestes, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten.

Obwohl es einige Mühe kostete, saß Sophie nun endlich am Tisch ihrer Familie und aß einen Gemüseeintopf. Wenn es etwas gab, wofür Sophie noch dankbarer war, dann war es die Tatsache, dass ihre Eltern ihr beigebracht hatten, sich selbst zu versorgen.

Wenn Sophie fertig war, konnte sie vielleicht zu dem Fluss gehen, an dem ihr Vater Fische zu fangen pflegte. Sophie brauchte nur noch ein paar Regenwürmer zu besorgen, dann hätte sie etwas Wunderbares zu essen.

Der plötzliche Regen hielt Sophie für den Rest des Tages davon ab, nach draußen zu gehen, bis es schließlich Nacht wurde. Das Gewitter schüttete unaufhörlich weiter, während Sophie in ihrer Hütte blieb.

Immer, wenn es so kalt war, versammelten sich ihre Mutter, ihr Vater und Sophie unter einer Decke, während ihre Mutter Geschichten erzählte... aber jetzt war sie allein.

Aber Sophie war immer noch warm, nicht wahr? Sophie lag unter der Decke ihres Bettes und war ganz für sich. Bis ein plötzlicher Blitz außerhalb ihres Fensters und ein Donnerschlag Sophie erschütterten.

"Ich bin dumm", flüsterte Sophie vor sich hin.

Es gab nichts, wovor Sophie Angst haben musste. Bis sie außer dem heftigen Regen und dem Donner noch etwas anderes hörte. Es war das Geräusch eines dringenden Klopfens an ihrer Tür.

Sophie hatte keine Ahnung, wer es war.

Sophies Nachbarn hatten sich nach dem Tod ihrer Eltern nie die Mühe gemacht, nachzusehen, also bezweifelte sie, dass es einer von ihnen war. Niemand kümmerte sich um sie, außer dass sie das Nötigste taten.

"Helfen Sie mir, bitte!"

Sophies Augen weiteten sich, als sie erkannte, dass es ein Hilferuf war. Die Stimme war krächzend und sehr leise, aber ihre Ohren waren sehr scharf und konnten selbst einen leisen Ton hören. Sie war sich also sehr sicher, dass es sich um einen Hilferuf handelte.

Konnte sie jetzt wirklich hinausgehen? Angst machte sich in ihrem Herzen breit, als Sophie darüber nachdachte, wer tatsächlich draußen sein und auf sie warten könnte.

Sophie hatte noch nie Angst vor dem Wald gehabt, aber jetzt kamen ihr all die Gerüchte in den Sinn, die ihre Nachbarn flüsterten, wenn sie und ihre Eltern mit ihnen Handel trieben. Sophie blieb wie erstarrt unter ihrer Decke.

"Hilfe", die Stimme wurde immer schwächer.

Sophies Herz schlug laut in ihrer Brust, aber dann war sie schon an der Tür und riss sie auf. Sophie könnte sich nie verzeihen, wenn sie tatsächlich jemanden abwies, nur weil sie Angst hatte.

Ein Junge, der nicht viel älter war als Sophie, schwankte auf der Veranda ihrer Hütte. Er war völlig durchnässt vom Regen und bleich wie ein Geist. Der Geruch von Blut lag in der Luft und der Junge sah sie mit geweiteten Augen an.

Er stolperte und fiel dann ohnmächtig in ihre Arme.