Wieder gekidnappt

Lina sah seine Zukunft vor sich abspielen. Eine Frau stand schluchzend vor einem leeren Altar, umklammerte ihre Schultern und schrie.

"Nur nicht er!" schluchzte sie, "Nur nicht er..."

Lina blinzelte heftig, ihr Herz schlug wild, als sich der Kopf der Frau umdrehte. Lina schrie schockiert auf.

Die Frau... Die Frau in Weiß war Lina!

Bevor Lina begreifen konnte, was geschah, erhob sich die Frau, das blutbefleckte Hochzeitskleid enthüllend. Die Braut lief auf Lina zu, kam jedoch nie bei ihr an. Mit jedem Schritt, den die Braut machte, zerfiel der Boden, bis Lina in völliger Dunkelheit stand.

Lina war verängstigt und panisch. Sie sah sich schnell um, sah nichts, doch hörte sie alles.

"...ich kenne sie nicht..."

"Das ist definitiv ein Weg, einer Frau den Boden unter den Füßen wegzufegen, Boss..."

Lina stöhnte auf, als die Welt wieder klar wurde und sie zurück in der Realität war. Es war das erste Mal, dass sie die Zukunft eines Menschen so dunkel und gefährlich gesehen hatte.

Lina fasste den Entschluss, sich von diesem Mann fernzuhalten. Doch als sie die Augen öffnete, tauchte ein Gesicht in ihrem Blickfeld auf.

"Fräulein, Sie sind wach!"

Lina schrie.

Er schrie.

Das ganze Auto war erfüllt von Schreien. Lina richtete sich auf und stieß mit ihrem Kopf gegen die Stirn des Fremden, der vor Schmerz aufschrie.

"Fräulein, Ihre gewaltige Stirn sollte man einen Fünf-Stirn nennen!" stöhnte das Opfer.

"Wer sind Sie?" Lina sah sich um und stellte fest, dass sie in einem Auto saß. Verdammt. Wurde sie entführt?

"Ich bin arm", platzte es plötzlich aus Lina heraus, während sie ihre weiße Leinentasche vom Sitz nahm und ausleerte, um zu zeigen, dass sie nichts außer einem Buch, Kaugummi und Kleingeld dabei hatte.

"Wenn Sie mich entführen wollen, um Lösegeld zu erpressen, ich habe nichts als einen einzigen Kaugummi und dreizehn Cent!" gestand Lina.

Linas Herz raste laut in ihren Ohren. Sie wusste, dass sie immer ohnmächtig wurde, wenn sie die Zukunft von jemandem sah, aber sie hatte erwartet, auf dem Boden des Museums aufzuwachen, nicht in einem Auto eines Mannes!

"Warum sollte jemand Sie entführen?" fragte eine irritierte Stimme von der anderen Seite des Wagens.

Lina starrte ihn ungläubig an. Sie saßen in einer Limousine, jemand saß neben ihr und jemand ihr gegenüber.

Lina ignorierte, wie seine Muskeln unter dem schwarzen Hemd hervortraten oder wie seine kalten Augen sie streiften. Sie ignorierte, wie vertraut sein Blick sich auf ihrer Haut anfühlte, die unter seiner Aufmerksamkeit zu brennen schien.

"Was haben Sie dann mit mir vor?" fragte Lina und wandte den Blick ab, doch irgendwie fing sie sich dabei, wie sie ihn wieder ansah.

Ihr Herz machte einen Hüpfer, Schmetterlinge flatterten in ihrem Magen, als er ihr Gesicht musterte. Seine Augen waren düster, wie eine leere Nacht in der Sterne zu ängstlich waren zu leuchten.

"Das kommt darauf an", sagte er, während sein Daumen über seine glänzende Uhr rieb. "Möchten Sie, dass ich etwas mit Ihnen mache?"

Lina starrte auf seine Hände. Männlich, muskulös und groß.

Lina hätte wissen müssen, dass ihr Schicksal mit seinem verbunden war, in dem Moment, in dem sie seine Zukunft sah. Sie war in seiner Zukunft präsent. Doch wie? Und warum?

"Ich möchte, dass Sie mich gehen lassen..." sagte Lina stockend. "Ich bin ein Niemand, Mister, bitte—"

"Mister?" sagte er scharf, beleidigt darüber, wie sie ihn ansprach, als wäre er in seinen späten Vierzigern.

"Pft", der Mann neben ihr unterdrückte ein Lachen.

Als er den verdunkelten Blick und die gefallene Temperatur bemerkte, hustete der Mann. "Ich muss wohl krank werden", grummelte er.

"Nur Idioten werden im Sommer krank", murmelte Lina und zog sich den Blick beider Männer zu.

Lina drückte ihre Knie zusammen und schaute weg, den Scherz bedauernd. Sie konnte nicht anders.

Jetzt würde sie wahrscheinlich in irgendeinem Wald mitten im Nirgendwo sterben. Und niemand würde ihren Körper finden können, wenn ihr Fleisch von den Geiern gepickt würde und sie ein einsamer Geist wäre, der durch die Welt wandert und—

"Niemand wird Sie verkaufen, kleine Taube", brummte er.'"Es ist Lina", murmelte sie und empfand Erleichterung, als er sie aus ihrem angstbeladenen Gedankenkarussell holte.

"Nur Lina?", fragte er nach.

"Nur Lina", antwortete sie emotionslos.

"…"

Stille umgab die Autofahrt.

Lina fragte sich, warum er nichts zu ihrer Ohnmacht sagte. Normale Menschen würden fragen, ob es ihr gut gehe, aber normale Menschen würden sie auch nicht in eine Limousine stecken und ins Nirgendwo fahren.

"Mister, wohin fahren wir?"

"Kaden", brummte er.

"Was?"

"Ich heiße Kaden, nicht Mister."

Es war also wirklich er.

Ein schweres Gefühl lag auf Linas Brust, als hätte sie den schlimmsten Herzschmerz ihres Lebens durchgemacht. Ihre Augen wurden feucht, als ihr plötzlich klar wurde, warum er ihr so vertraut erschien. Sie hatten sich vor langer Zeit schon einmal begegnet.

"Wenn du weinen willst, tu es nicht." Kaden beäugte sie kritisch.

"Aber Chef, es sollte keine Überraschung sein. Frauen weinen in der Regel, wenn sie deinen Namen hören..."

Sein Blick verhärtete sich. Sie war tatsächlich im Begriff zu weinen. War sein Name so schmerzvoll, dass allein seine Erwähnung zu Tränen führte?

Seine Sekretärin schwadronierte weiter. "Natürlich ist es meist im Bett, wenn sie deinen Namen schreien und—"

"Sebastian", fuhr Kaden ihn an.

Sebastian hielt sofort inne. Er hatte nur versucht, die Stimmung aufzulockern. Sein Chef musste nur den Mund aufmachen, und jegliche Freude würde aus der Welt verschwinden.

"Bringst du mich nach Hause?" fragte Lina.

"Würde ein Fremder wissen, wo dein Zuhause ist?" erwiderte Kaden.

Lina umklammerte ihr Kleid fester und sein nachdenklicher Blick glitt zu ihren Händen. Sein intensives Starren ließ sie warm werden.

"Wohin gehen wir dann?" sagte Lina.

"Nach Hause."

"Aber... du hast doch gerade gesagt, du weißt nicht, wo ich wohne."

"Mein Zuhause."

"Oh." Lina blinzelte. "Oh, verstehe."

Dann zuckte sie zusammen. "W-wirklich…?"

"Nein."

Lina blinzelte.

Kaden grunzte.

Kaden schlug seine Beine übereinander und starrte weiter aus dem Fenster. Nie in all seinen Jahren der Sterblichkeit hatte er jemanden getroffen, der ihn erkannte, zumindest nicht so, wie sie es tat.

Langsam setzte bei Kaden ein Déjà-vu-Erlebnis von seinem ersten Leben ein, dem allerunangenehmsten.

"Du hast gefragt, ob ich etwas besitze, um entführt zu werden, und jetzt willst du mich schon wieder entführen?" fragte Lina, doch bereute sofort ihre Worte.

"Nochmal?" hallte Kaden wider, sein Kopf ruckte zu ihr hin. Erinnerte sie sich wirklich?

Lina schluckte. Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen…