Ohne Aufrichtigkeit

Am nächsten Morgen zauderte Lina, sich an den Frühstückstisch zu setzen, doch sie hatte keine andere Wahl. Sie war hungrig und die Köche gehorchten nur ihrer Mutter. Sie würden später nicht kochen, wenn ihre Mutter es verbieten würde.

Mit Widerwillen schritt Lina die Treppe hinab, wo ihre Familie bereits auf sie wartete.

Beim Anblick ihres Vaters, der fröhlich seinen Kaffee schlürfte und seine Zeitung las - obwohl heutzutage die meisten Leute doch eher die Nachrichten schauten -, stockte Lina. Sie bemerkte die dünnen Lippen und die zusammengezogenen Augen ihrer Mutter.

"Komm schon, ich habe dir einen Platz neben deinem Lieblingsessen freigehalten!" Milo klopfte auf den Platz neben sich, an dem er bereits neben dem Tischende, ihrem Vater, saß.

"Sie sollte neben mir sitzen", zischte ihre Mutter. "Hier ist der Salat."

Lina setzte sich widerwillig zu Milo. Mit dieser angespannten Atmosphäre beim Frühstück riskierte sie eine Verdauungsstörung. Ihr Vater schien das nicht zu stören, er legte seine Kaffeetasse beiseite und nahm einen Bissen, ohne die Spannung zu kommentieren, und aß wie gewöhnlich weiter.

"Hier hast du dein Lieblingsessen", sagte Milo begeistert und schaufelte das pochierte Ei mit Sauce Hollandaise auf ihren Teller. Er grinste ihr zu.

"Aber das ist ja auch dein Lieblingsessen", warf Lina schmunzelnd ein. "Als ältere Schwester sollte ich es eigentlich dir lassen. Wieso bist du auf einmal so nett? Ich habe Angst, dass gleich ein Sturm kommt."

Milo schnaubte und verdrehte die Augen. "Wenn ich jetzt nicht nett zu dir bin, kommst du vielleicht nie wieder vom College nach Hause."

Lina lachte, hob Gabel und Messer, durchschnitt das Ei und führte es zum Mund. Doch dann sprach ihre Mutter.

"Bist du sicher, dass du dieses hochkalorische Essen essen willst? Du passt bereits nicht mehr in deine extra kleinen Kleider", schnaubte ihre Mutter.

"Ach, Evelyn", tadelte ihr Vater.

Ihre Mutter Evelyn verengte die Augen. "Willst du wirklich zulassen, dass sie das isst? Sie hat selbst gesagt, dass ihr Blind Date gestern furchtbar war und sicher liegt es daran, dass sie auf dem Foto viel schlanker aussah!"

Lina verengte ihre Augen. "Nicht jeder kann eine Mandel essen und satt sein."

Ihre Mutter starrte sie angesichts ihrer Kühnheit fassungslos an und wandte sich sofort ihrem Mann zu. "Hörst du das, mein Mann? Deine Tochter widerspricht jetzt. Ich wusste, dass es keine gute Idee war, sie aufs College zu schicken!"

Milo seufzte. "Können wir nicht einfach einmal in Ruhe frühstücken?"

"Es war ruhig, bis deine Schwester alle unsere Pläne durcheinandergebracht hat. Everett ist der Erbe einer der mächtigsten Anwaltskanzleien des Landes und du hast deine Chancen vertan. Was hast du überhaupt für Aussichten, abgesehen von dem guten Aussehen, das du von mir geerbt hast?" schleuderte Evelyn ihr entgegen.

Lina blinzelte nicht mal. Ihr Vater war zu beschäftigt damit, die pochierten Eier zu verschlingen, als dass er sich auf eine Auseinandersetzung mit seiner Frau einlassen würde, die zu Hause die Finanzen im Griff hatte.

"Wenn er so großartig ist, vielleicht solltest du ihn heiraten", meinte Lina gelassen und hob die Gabel an den Mund, hielt dann aber inne, als ein Klopfen an der Haustür die Unterhaltung unterbrach.

"Ein Paket?" Die Stimme des Butlers hallte leise bis in den Esssaal, wo alle hochblickten, außer ihr gefräßiger Vater.

"Ja, mein Herr", sagte der Sicherheitsmann und reichte ihm ein luxuriös aussehendes Paket. "Das Paket wurde bereits auf verdächtige Inhalte überprüft und wir haben nichts gefunden."

"Gut", sagte der Butler und beschloss, das Paket nach dem Essen zur Familie zu bringen.

Lina wusste, dass diese Wände nicht schalldicht waren, somit wusste fast jeder Diener hier, wie taktlos ihre Mutter sein konnte.

"Du da", Evelyn wandte sich an ein Dienstmädchen, ohne sich um dessen Namen zu scheren, wenn sie ihre Gehälter zahlte. "Hol das Paket vom Butler."

"Ja, gnädige Frau...", flüsterte das Dienstmädchen, verbeugte sich und verließ den Raum, ohne der Familie den Rücken zuzuwenden, was als äußerst respektlos galt.Lina fragte sich, wer der Absender sein könnte und was sich wohl in dem Paket befinden mochte. Das Herrenhaus bekam selten Sendungen, weil die Bediensteten alles beschaffen konnten, was die Familie begehrte. Oder Designer suchten direkt den Kontakt zur Familie Yang, insbesondere zu Ihrer Mutter, die sparsam wirtschaftete, obwohl sie erst in die Familie eingeheiratet hatte.

Plötzlich wurde an die Tür des Esszimmers geklopft.

"Herein", rief Evelyn ungeduldig.

Alle sahen zu, wie das Dienstmädchen mit einer schwarzen Schachtel, die mit einem silbernen Band gebunden war und unter dem Kristalllüster funkelte, den Raum betrat.

Lina interessierte sich nicht für das Geschenk. Sie nutzte die Gelegenheit, ihre abgelenkte Mutter, lud die pochierten Eier von ihrer Gabel und pickte heimlich mit ihrem Salatbesteck nach dem Salat.

Lina verzieht das Gesicht beim fade schmeckenden Salat in ihrem Mund, schluckte ihn schließlich herunter und verzichtete darauf, weiter zu essen.

"Das muss für mich sein", piepste Evelyn, nahm die Schachtel an sich und bewunderte die Verpackung. "Das hättest du wirklich nicht müssten, Frederick, unser Hochzeitstag liegt noch in weiter Ferne."

Ihr Mann Frederick antwortete nicht, sondern nahm einen Schluck von seinem Kaffee und warf Lina einen Blick über die Tasse zu. Er erkannte ihren finsteren Blick. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, stieß seine Frau einen lauten Aufschrei aus.

"Oh mein Gott..." Evelyns Hände zitterten, als sie die unbezahlbare Tasche in der Schachtel erblickte. "Das ist ein Einzelstück. Es gibt nur zwei davon auf der Welt, und die andere hat die Königin der Schattenwesen von ihrem Gatten erhalten!"

Evelyn war sprachlos angesichts des kostbaren Gegenstands, den nicht Geld, sondern nur Ansehen kaufen konnte.

Dass ihr unfähiger Ehemann, der nicht einmal Erbe der Yang Enterprise war, ihr so etwas schenken würde...

Evelyn könnte selig sterben, wenn sie an den Prestigegewinn dachte, den diese Tasche ihr bringen würde. Jeder Prominente wäre vor Neid erblasst.

"Dieses Geschenk ist sogar noch besser als das, was die Matriarchin mir zur Geburt von Milo geschenkt hat!" rief Evelyn aus.

Schnell winkte Evelyn ein Dienstmädchen herbei. "Bring mir meine Handschuhe!"

Evelyn wagte es nicht, die luxuriöse Tasche mit bloßen Händen zu berühren. Die mit Diamanten besetzte Außenseite könnte durch das natürliche Öl auf ihren Händen Flecken bekommen. Sie wollte auch nicht den Glanz der Tasche beeinträchtigen, der so hell war, dass er den ganzen Tisch erleuchtete.

Als das Dienstmädchen die Handschuhe brachte, zog sie sich diese schnell über und präsentierte die Tasche dann allen sichtbar. Selbst die dienenden Mädchen, die ihre Köpfe gesenkt hielten, hätten sie gerne angehoben, um einen Blick auf dieses begehrte Stück zu werfen.

"Oh wow", seufzte Evelyn.

Evelyn lachte sogar in ihren Träumen vor reiner Freude. Sie zeigte ihrer einzigen Tochter die Tasche.

"Siehst du, Lina, wenn dein Date gut gelaufen wäre und du auf Mama gehört hättest, könntest du einen Mann wie deinen Papa heiraten und würdest auch so ein tolles Geschenk zum Hochzeitstag bekommen!" sagte Evelyn vorwurfsvoll.

Lina entgegnete nichts und spielte mit der Kirschtomate auf ihrem Teller herum. Sie stach darauf herum und beobachtete, wie der rote Saft heraussprudelte. Schließlich knurrte ihr Magen, und sie biss widerwillig hinein.

"Oh, schau mal, hier ist ein Zettel", sagte Milo und deutete auf die weiße, goldgeränderte Karte, die in der samtigen Verpackung lag.

Lina wollte nicht die rührselige Nachricht ihres Vaters an ihre Mutter mitanhören, stand auf und verließ den Tisch. Sie hatte heute schon genug gegessen und musste mit ihren Winter-Hausaufgaben anfangen. Aber als sie einen Schritt zur Tür machte, herrschte plötzlich Stille.

"Oh", Milos Augen weiteten sich und er blickte von seiner Mutter zu seiner Schwester.

"Für die liebe Taube, die fliegen möchte", las Milo von der Karte ab, die seine Mutter zunächst verwirrt, dann aber erhellte. "Mögest du jeden Diamanten verkaufen und dir deine Freiheit erkaufen. Ganz ohne Hintergedanken, Mister."