Ins Gefängnis geworfen

Am nächsten Morgen erkannte Lina, dass sie auf Milos Rat hätte hören sollen. Als sie vor dem Haupteingang der Second Mansion stand, bereute sie alles – vor allem, dass ihre Mutter sie in dieses schreckliche schwarze Kleid gezwungen hatte, welches kaum noch einen öffentlichen Skandal vermied.

„Ich sehe aus, als würde ich ins Gefängnis gesteckt, sobald ich mich bücke", schnauzte Lina ihren jüngeren Bruder an, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte angesichts ihres überaus kurzen Kleides.

„Pft!" Milo kicherte über Linas tiefe Stirnfalte und ihr aufgebrachtes Gesicht.

„Aber ich würde lieber lebenslang wegen Mordes an meinem jüngeren Bruder einsitzen!", zischte sie ihn an und packte ihn am Kragen, woraufhin er vor Lachen brüllte.

„Ich habe dich gewarnt!", lachte Milo noch lauter, als sie seufzend die Arme verschränkte. „Ich rate dir, das nicht zu tun, sonst blamierst du dich vor allen Leuten."

Sofort ließ Lina die Arme sinken, als ihr klar wurde, dass das Kleid auch ziemlich tief ausgeschnitten war. Es war nicht so, dass sie das Kleid nicht mochte, aber es war unangenehm kurz. Sie stöhnte und schielte auf seine Anzugjacke.

„Gib mir deine Klamotten", forderte Lina, als sie ein weißes Auto die Straße entlang auf sie zufahren sah. Sie hatte keine Zeit, in ihr Zimmer zurückzugehen und sich umzuziehen – nicht, dass ihre Mutter es ihr erlaubt hätte.

An diesem Morgen wurde Lina in Perfektion getrieben und gezogen. Sie war förmlich aufgewacht, nur um von Dienstmädchen überfallen zu werden, die sie schminkten, frisierten und in dieses unbequeme Kleid steckten. Sie hatte versucht sich umzuziehen, entdeckte aber, dass ihre Schränke verschlossen waren.

„Igitt, nein, ich will nicht, dass meine Kleidung nach dir riecht..."

„Ja, aber du bist nach mir geboren, also musst du auf mich hören", entgegnete Lina snappish, ihm seine Jacke entreißend.

„A-ah, hey!", schrie Milo und zog seine Kleidung zurück, bevor er sich über ihre unmenschliche Stärke beschwerte. „Verdammt, warum bist du so verdammt stark!"

Schließlich, nach einigem Gerangel, gelang es Lina ihrem Bruder den Blazer abzunehmen, gerade als sich die Türen öffneten und Ruhe einkehrte.

Lina wurde bewusst, dass ihr Blind Date sich das Ganze angesehen hatte. Und er starrte sie an, als ob sie aus der Anstalt geflohen wären. Aber sie war zu schamlos, um sich darum zu kümmern. Mit Mühe zwängte sie sich in die Jacke ihres Bruders. Dies war das einzige Mal, dass sie für seine Größe dankbar war. Die Jacke reichte ein paar Zentimeter unterhalb ihres Hinterns, wodurch sie etwas anständiger aussah.

„Hallo", begrüßte sie.

„Guten Morgen …", begann Everett, ließ dann aber nach einem Blickwechsel von Lina zu ihrem Bruder den Satz unvollendet.

„Das ist mein Bruder Milo", sagte Lina, während sie Milo anstieß, damit er nicht unhöflich blieb und Everett begrüßte.

„Es freut mich sehr. Mein Name ist Everett Leclare." Everett streckte die Hand für einen förmlichen Händedruck aus.

Milo verengte misstrauisch die Augen und musterte Everett von Kopf bis Fuß. Verdammt, dieser Everett war ein Riese! Everett war gut zwei Zoll größer als Milo.

Trotzdem ließ Milo ein spöttisches Schnauben hören und rollte mit den Augen, während er sich wie ein Bengel benahm.

„In Ordnung", sagte Milo letztendlich und ignorierte Everetts Hand. Er drehte sich zu seiner Schwester und warf ihr einen mahnenden Blick zu. „Das ist meine Lieblingsjacke. Mach sie nicht kaputt oder du kaufst mir eine Neue!"

Everetts Lächeln wurde schmaler, aber er zog seine Hand zurück.

„Oh bitte, du tust so, als ob unsere Familie dir nicht gleich eine Neue kaufen könnte", sagte Lina spöttisch, um die Stimmung etwas aufzulockern. Sie fragte sich, warum Milo gleich etwas gegen Everett hatte.

Milo war normalerweise so lebensfroh wie ein Golden Retriever, doch gegenüber Everett zeigte er jetzt Zähne.

Lina verstand es nicht, aber sie nahm an, dass ihr jüngerer Bruder einfach nur überbesorgt war.

„Diese Richtung bitte, Miss Yang", sagte Everett sanft, um sie von ihrem unausstehlichen jüngeren Bruder abzulenken. Er musste sich nicht beweisen, sein Name sprach für ihn.

„Richtig ...", setzte Lina an und folgte ihm widerwillig zu seinem weißen Auto. Sie spürte einen intensiven Blick in ihrem Rücken, und wusste, dass es Milo war, der Everett böse Blicke zuwarf.

Als Lina nach Hause kam, beschloss sie, Milo zu fragen, was er gegen Everett hatte. Doch ohne ein weiteres Wort und einen weiteren Blick bestieg Lina den Beifahrersitz. Unmittelbar umhüllte sie der Duft seines Autos und sie hielt im Anerkennung inne.

„Duft von Lilien", flüsterte Lina.' '"Ich habe gehört, es ist dein Lieblingsessen", sagte Everett, während er ihr ein kurzes Lächeln schenkte und das Auto startete.

"Von wem?" fragte Lina.

"Zu Ohren gekommen", neckte Everett.

Lina blinzelte. Also, von ihrer Mutter. Das hatte sie schon erwartet. Sie sagte nichts weiter, sah aus dem Fenster und verstand bereits, wer sie wohl zu diesem weiteren Blind Date gebracht hatte. Sie begann zu realisieren, dass das Gespräch, das Milo gestern erwähnt hatte, wahrscheinlich zwischen Everetts Mutter und ihrer Mutter stattfand – oder zwischen Everett und ihrer Mutter.

Lina hoffte, das Gespräch sei nicht zwischen Everett und ihrer Mutter verlaufen. Dann müsste sie ihm wenigstens nicht so übelnehmen, was zu einem ruinierten Date führte, und sie musste einige Stunden mit ihm verbringen.

"Was hältst du von einer Ehe ohne Liebe?" fragte Lina, während sie zu erahnen begann, wohin sie unterwegs waren, abhängig von der Straße, die sie befuhren.

"In den meisten Ehen zwischen der reichen Tochter und dem wohlhabenden Sohn, gibt es keine Liebe", sagte Everett langsam und tastete ihre Reaktion ab. "Es ist zu erwarten."

"Und das ist für dich in Ordnung?"

"Ich hoffe, wir können uns zumindest vertragen", sagte Everett geduldig.

Everett hatte von vorneherein keine Liebe erwartet. Seine Eltern hatten nicht aus Liebe geheiratet, sondern der Bequemlichkeit halber. Das Gleiche ließe sich wohl auch über Linas Eltern sagen.

"Aber in einer Ehe gibt es immer Liebe", sagte Everett. "Nur nicht die Art, wie man sie aus Büchern kennt."

"Was meinst du damit?" fragte Lina und ignorierte dabei, dass sie ihm höflich mitgeteilt hatte, ihn nie wiedersehen zu wollen. Vielleicht hätte sie deutlicher sein sollen. Dann hätte er ihr heute Morgen kein Paket geschickt und es hätte kein angespanntes Frühstück gegeben.

"Mein Vater liebte es, nicht unter dem Druck seiner Eltern zu heiraten, und meine Mutter genoss den damit verbundenen Ansehensgewinn. Sie liebten beide etwas, nur nicht einander", erklärte Everett.

"Ist das nicht genug?" fügte er hinzu und warf ihr einen Blick zu, bevor er den Wagen in den privaten Eingang des berühmtesten Museums der Stadt Ritan lenkte.

Everett stieg aus, öffnete ihr die Tür und beobachtete, wie sie elegant ausstieg. Sie hatte also doch diese anmutige Seite an sich. Er lächelte in sich hinein und trat einen Schritt zurück.

Lina musterte ihre Umgebung und ihr Magen zog sich zusammen. Sie waren im Museum, das am meisten über Ritan zu berichten wusste. Verdammt nochmal.

"Es ist nicht genug", sagte Lina letztendlich zu ihm.

Everett war verwirrt. Meinte sie, der Ort des Dates wäre nicht genug für sie?

Lina seufzte und berührte ihren Nacken. "Ich bin ein hoffnungsloser Romantiker. Wenn ich mich verliebe, möchte ich mich so sehr verlieben, dass es den tiefsten Eindruck in meinem Herzen hinterlässt – egal ob gut oder schlecht. Für mich ist das Liebe."

Der Parkservice fuhr das Auto schnell weg, und Lina wurde klar, dass Everett all das für sie arrangiert haben musste. Es war nicht so, dass es ihr nicht gefiel, aber wie unangenehm es für andere Besucher sein würde, die vielleicht auch vorhatten, dieses Museum zu besuchen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er der Typ Mann war, der einen ganzen Bereich absperren lassen würde.

"Dann hoffe ich mal, dass du dich unsterblich in mich verliebst und es die größte Delle in deinem Herzen hinterlässt", sagte Everett.

Everett verstand es, Frauen zu umgarnen, und er wusste, dass dieser Satz sie normalerweise dahinschmelzen lassen würde. Doch bei Lina vertiefte sich nur das Stirnrunzeln und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.

"Oder du schießt mir einfach in die Brust und hinterlässt ein gleich großes Loch", murmelte Lina, was Everett zum Lachen brachte.

Die meisten Frauen hätten ihn für seine charmanten Worte gelobt, doch sie gönnte ihm diese Befriedigung nicht. Sie hatte seine Worte zerpflückt und sie ihm direkt zurückgegeben.

"Ich fange an, dich sehr, sehr viel mehr zu mögen, Miss Yang. Vielleicht wird die Liebe in unserer Ehe nicht nur der Bequemlichkeit entspringen", sagte Everett.

"Widerlich", sagte eine Stimme hinter ihnen.

Beide drehten sich um. Everett wurde steif. Lina starrte.

Irgendwie, durch pure Magie oder Zufall, war Kaden bei ihrem Blind Date dabei. Schon wieder.