Prinzessin

"Bist du unsterblich?", entgegnete Lina scharf. Gut, wenn er schwierige Fragen stellen wollte, konnte sie ebenso entgegnen.

Kaden zwinkerte nicht einmal. Nichts schien ihn mehr zu beunruhigen.

"Du beantwortest zuerst meine Fragen", sagte Kaden.

"Nein, du."

Kaden schnaubte verächtlich. "Ich habe den ganzen Tag Zeit, Prinzessin."

"Und ich ebenfalls."

Er rückte näher an sie heran, es schien eine Warnung zu sein. Lina entgegnete dies mit einem trotzig herausfordernden Blick. Sie sah süß aus, wenn sie wütend war, wie ein kleines Kätzchen, das das Beißen noch lernt.

Die Mundwinkel von Kaden zuckten.

"Tatsächlich?", fragte Kaden gelassen und neigte seinen Kopf.

Lina versuchte zu ignorieren, wie das Licht hinter ihm seine markanten Gesichtszüge in Schatten tauchte. Kaden strotzte nur so vor gutem Aussehen und nutzte es zu seinem Vorteil. Ihr Magen kribbelte, als er seinen Kopf beugte, um ihr direkt in die Augen zu schauen.

"Lässt du deinen kleinen Freund einfach so stehen?", sinnierte Kaden.

Die Distanz zwischen ihnen war kaum vorhanden. Eine kleine Bewegung, und er könnte sie küssen. Das musste ihr bewusst sein.

Unmerklich lehnte Lina sich zurück, um etwas Raum zwischen sich zu bringen. Sie ignorierte seinen kühlenden Atem, der nach Minze und einem Hauch Asche roch. Rauchte er etwa? Sie hoffte nicht.

"Hast du nicht ein Unternehmen zu leiten?", forderte Lina.

"Ah, wieder eine Frage. Du beantwortest erst meine."

Etwas bewegte sich in ihrem Augenwinkel. Ihr Kopf schnellte zur Seite, und ihr Herz sank ihr in die Magengrube.

Everett stand am Ende des Ganges. Er war zu weit entfernt, als dass sie seinen Gesichtsausdruck erkennen konnte. Aber sie wusste, dass er nicht erfreut aussah.

"Kaden, ich habe genug von diesem Spiel, lassen wir es—"

"War es nicht Kade?", neckte Kaden mit einem angedeuteten Lächeln auf dem Gesicht.

Lina hatte genug von seinem Gespött. "Lass mich gehen."

"Und wenn ich nein sage?"

Lina funkelte ihn an. Kaden lachte nur.

Lässig stieß Kaden sich von der Wand ab und ließ sie los. Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

"Warum sollte ich dich zwingen zu bleiben, wenn ich dich anflehen lassen könnte, zu bleiben?", sagte Kaden gelassen und blickte sie eindringlich an.

Lina hielt es für klug, sich von ihm fernzuhalten. Seine Fragen bedeuteten für sie gefährliches Gebiet. Als sie zum ersten Mal von ihrem früheren Leben sprach, endete es in der Katastrophe – Stürme und aufblitzende Lichter waren die Folge.

"Du hältst dich wohl für ziemlich witzig", spottete Lina.

Als sich die Gelegenheit bot, ergriff Lina diese sofort und setzte einige Schritte nach vorn.

Ohne Vorwarnung ergriff Kaden ihr Handgelenk und zwang sie, sich umzudrehen. Sie blickte auf seine große Hand, die nur ihren Blazer und nicht ihre Haut berührte.

"Was soll das?", verlangte Lina.

"Warum hast du mich vergessen?", fragte Kaden mit einem plötzlichen ernsten Unterton.

Linas Herz schmerzte bei dieser Frage. Sie blickte in seine Augen und schüttelte langsam den Kopf.

"Ich habe dich niemals vergessen", flüsterte Lina. "Niemals."

Kaden stieß ein raues Lachen aus. Seine Augen blieben kalt. "Lügen."

"Ich habe wirklich nicht vergessen..."

"Du erinnerst dich nicht an mich", forderte Kaden.

"Doch, das tue ich!", entgegnete Lina hitzig.

"Nein, tust du nicht."

"Wir sind uns bereits früher begegnet", behauptete Lina. "Ich merke mir jedes Gesicht, das mir begegnet."

"Wie sehr erinnerst du dich an dein kleines Date?" Kaden knurrte. Wollte sie ihm etwa ins Gesicht lügen? Oder wusste sie es tatsächlich nicht?

Lina blinzelte. "Was?"

"Erinnerst du dich an ihn, so wie du dich an Kade erinnert hast?" erkundigte sich Kaden.

Seine Worte warfen ihre Gedanken durcheinander. Was wollte er damit sagen? Lina war verwirrt.

"Ich erinnere mich gut an Kade", murmelte Lina, und ihr Herz klopfte ein wenig schneller.

Jedes Mal, wenn Lina Kade erwähnte, war sie gezwungen, sich an ihr früheres Leben zu erinnern. Sie musste die Freude und den Schmerz wieder erleben sowie die Albträume ertragen.

"Nur an Kade?" fragte Kaden.

Lina starrte ihn an. "Du bist unsterblich, stimmt's?"

Kaden neigte interessiert den Kopf bei ihrer Frage. "An wie viel erinnerst du dich genau?"

"An mein erstes Leben...", gestand Lina, obwohl es das letzte Mal, als sie dies zugab, furchtbar geendet hatte.

"Nur an das erste Leben?" insistierte Kaden.Lina blinzelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Warum stellte er es so dar, als hätten sie mehr als ein ganzes Leben miteinander verbracht...?

Plötzlich pochte ihr Kopf, ihre Ohren dröhnten. Sie zuckte zusammen, geplagt von einem lauten Klingeln. Ihr Geist war ein Wirrwarr. Ein schwerer, schmerzhafter Nebel hüllte sie ein, und klares Denken war unmöglich.

"Ich verstehe", sagte Kaden und ließ ihr Handgelenk los. Er hatte sie heute nicht berührt. Nur ihre Kleidung. Kein einziges Mal. Er wollte nicht riskieren, dass sie wieder in Ohnmacht fiel.

"Geh." Kaden schob sie sanft in Everetts Richtung, direkt in die Arme des Feindes.

Lina stolperte. Ihre Sicht klärte sich endlich, Trübungen wichen. Auch ihr Gehör wurde langsam klarer. Was war nur los?

"Präge dir mich gut ein", befahl Kaden, "Du kannst spielen mit wem du willst, aber eines sollst du nicht vergessen – du wirst immer mir gehören."

Kaden entfernte sich, bevor sie antworten konnte.

Obwohl Everett hinter ihr stand, war Lina immer noch ganz auf Kaden fixiert. Wie konnte es auch anders sein?

Kaden bewegte sich mit großen Schritten den Flur hinunter. Eine Hand in der Tasche, gab er den Blick auf sein weißes Hemd frei, das sich an seine breiten Schultern schmiegte und seine kräftige Statur betonte.

Nicht ein einziges Mal blickte er zurück. Er brauchte es nicht.

"Geht es dir gut?" fragte Everett sie sanft.

Everett musterte sie sorgfältig und bemerkte, dass sie blasser aussah als sonst.

"Hat er dir etwas angetan?" Everett kochte vor Wut.

'Er hat mich getröstet und herausgefunden, dass ich mich an mein erstes Leben erinnere', dachte Lina ironisch.

"Nein", log Lina und hielt ihr Gesicht ruhig und beherrscht.

"Nein?" Everett wiederholte, ihr keinen Moment glaubend.

"Nein, hat er nicht." Lina zog den Blazer ihres Bruders enger um sich.

Jetzt, wo Kaden fort war, wurde ihr bewusst, wie kalt es im Museum war.

"Es wird spät", sagte Lina. "Ich kehre zurück zur Zweiten Villa."

Enttäuschung ließ Everetts Schultern hängen. Er hatte alles vorbereitet. Nun war es zunichtegemacht. War das von Anfang an Kadens Absicht gewesen? Suchte er nur nach einem Vorwand, um ins Museum zu kommen und dann das Treffen platzen zu lassen?

Everett verabscheute den jungen DeHaven-Meister.

"Lass mich dich zuerst ausführen, damit du etwas Warmes im Magen hast", bot Everett ihr seine Hand an.

Lina warf nicht einmal einen Blick darauf. Sie ging an ihm vorbei und den Flur entlang. Sie brauchte von niemandem die Erlaubnis, um nach Hause zu gehen. Sobald sie zu Hause ankam, wollte sie dieses furchtbare Kleid verbrennen und die Ereignisse des heutigen Tages vergessen.

"Schon gut, schon gut", sagte Everett.

Everett musste zugeben, dass ihre ablehnende Haltung attraktiv war. Es weckte in ihm den Wunsch nach ihrer Aufmerksamkeit. Je mehr sie ihn ablehnte, desto mehr war er fasziniert."Lass mich dich nach Hause bringen", bot Everett an und joggte höflich lächelnd zu ihr auf.

Lina gab keine Antwort. Ihre Absätze klapperten auf dem Boden – ein kalter, trostloser Klang.

Everett sah sie besorgt an. Das, was Kaden gesagt und getan hatte, musste sie aufgewühlt haben. Er runzelte die Stirn und wünschte, er wäre früher da gewesen.

Bei all den schrecklichen Gerüchten, die um den Dehaven-Erben kursierten, würde es Everett nicht wundern, wenn Lina etwas Unangenehmes widerfahren würde.

"Hier entlang", sagte Everett und legte behutsam eine Hand auf ihren Oberarm.

Sofort blieb Lina stehen und schüttelte seinen Arm ab.

"Ich kann alleine gehen", erwiderte Lina kalt.

"Ich weiß, aber ich wollte dich nur an mein Interesse erinnern", entgegnete Everett langsam.

Lina ließ einen kleinen, genervten Seufzer hören. "Wer hat dieses Blind Date arrangiert?"

Everett senkte seinen Blick. "Meine Mutter."

Lina funkelte ihn an. "Beim Lügen solltest du nicht wegschauen."

Enttäuscht schüttelte Lina den Kopf, fragte sich aber, wie ein intellektueller Erbe so schlecht beim Lügen sein konnte. Es sei denn, es war Absicht... Sein Vater führte eine der größten Anwaltskanzleien des Landes. Es war unwahrscheinlich, dass Everett schlecht im Lügen war, oder?

"Hättest du noch ein Date gewollt, hättest du mich direkt ansprechen können, nicht meine Mutter", sagte Lina verärgert. "Deine Chancen hast du aber schon verspielt."

"Du hast mir deine Kontaktdaten nicht gegeben. Ich hatte keine andere Wahl", erklärte Everett.

Linas Augenbrauen zogen sich zusammen. "Eine Visitenkarte oder geschäftliche Telefonnummer habe ich nicht."

Everett lachte nervös. "Nein, ich meine deine persönlichen..."

"Hör zu", unterbrach Lina ihn trocken. "Du bist ein toller Kerl, Everett, aber nicht der Richtige für mich. Jede Gesellschaftsdame würde sich glücklich schätzen, mit dir ausgehen zu können. Aber eben nicht jemand wie ich."

"Lina—"

"Such dir jemand anderen. Nur nicht mich." Lina ließ ihn nicht zu Wort kommen.

Sie setzte ihren Weg fort und blickte nicht zurück. Doch wenig später hörte sie Schritte hinter sich und wusste, er folgte ihr.

Lina sagte nichts, denn sie wollte ihm keinen falschen Verdacht unterstellen. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zum Museumsausgang, wie sie. Sie brauchte ein Taxi, er musste zu seinem Wagen.

Bis Lina den Eingang erreichte.

Blendende Lichter flackerten auf. Bald stand Everett direkt hinter ihr. Gemeinsam wurden sie von den Paparazzi erfasst, klar und deutlich für alle sichtbar.

Bald würde die ganze Nation erfahren, dass Lina Yang und Everett Leclare ein Date hatten.