Tissue-Boxen

Sebastian kämpfte gegen ein Lachen an und würgte es mit einem Husten hinunter. Er räusperte sich in seine Faust hinein, doch seine Lippen drohten, zu einem Lächeln aufzubrechen.

"Raus." Kaden wies mit seinem Kinn zur Tür hin.

Priscilla schnaubte. "Ich habe die Reise extra aus dem Einkaufszentrum hierher gemacht, in meiner Rolle als Direktorin. Mindestens könntet ihr einen Blick auf die Berichte werfen, die ich euch so sorgfältig zusammengestellt habe."

Lina beobachtete Priscilla. Dieses neue Leben als Direktor eines der erfolgreichsten Einkaufszentren des Landes war ein enormer Sprung von Priscillas früherem Dasein als Dienstmädchen.

Lina fragte sich, ob Priscilla womöglich ebenfalls unsterblich war, aber das erschien ihr unmöglich. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die Art und Weise gelenkt, wie das Sonnenlicht Priscillas hellblondes Haar und ihre wunderschönen, waldgrünen Augen zum Strahlen brachte.

Im Vergleich dazu fühlte Lina sich mit ihren schwarzen Haaren und ihren ebenso schwarzen Augen unscheinbar und gewöhnlich, wie jede andere Frau in diesem Land.

"Lasst es mich nicht wiederholen müssen", sagte Kaden, seine Stimme distanziert und abweisend.

Priscilla war sein Verhalten zwar gewöhnt, fühlte sich jedoch dennoch verletzt. Sie umfasste den Bericht fester, am liebsten hätte sie ihn ihm ins Gesicht geschleudert. Doch leider hatte sie keinen Todeswunsch. Zumindest nicht jetzt.

"Die Farben sind nicht korrekt", sagte Lina und ihre Augen fielen auf den Bericht in Priscillas Händen.

Priscilla schreckte hoch, wirbelte herum und sah die Frau, die ohne Erlaubnis des jungen Meisters das Büro betreten hatte. War diese Frau etwa lebensmüde…?    

Normalerweise wären die meisten Menschen buchstäblich in den Müll befördert worden. Priscilla hatte selbst miterlebt, wie jemand hinausgezerrt und in den weit hinter dem Gebäude gelegenen Müllcontainer geworfen wurde.

"Wovon sprechen Sie?" fragte Priscilla ruhig.

Priscilla war immer offen für Rückmeldung. Jede Gelegenheit zur Verbesserung war ein Gewinn.

"Diese Farben sind nicht geeignet für Menschen mit Farbenblindheit", begann Lina. "Für Farbenblinde, insbesondere mit einer Rot-Grün-Schwäche, werden deine Grafiken schwer zu verstehen sein."

"Was redest du da überhaupt?" fragte Priscilla, während sie auf ihre farbenfrohen Diagramme, Tabellen und Spalten herabschaute.

Lina wies auf die Tabellen. "Für Menschen, die Rot und Grün schlecht unterscheiden können, wirken diese Gelb-, Orange-, Hellrosa- und Braun-Töne fast alle wie ähnliche Nuancen von Gelbgrün. Es wird also schwer sein, die Reihen von Daten und Zahlen zu trennen."

Priscilla blinzelte verwirrt, doch Lina fuhr ungehindert fort.

Sie deutete auf die Datentabelle. "Und für Menschen mit einer Blau-Gelb-Schwäche werden diese praktisch wie sehr ähnliche Töne von Orange-Rot aussehen, was es ihnen erschwert, die Details der Diagrammlinien zu entziffern."

Betroffenes Schweigen füllte den Raum.

Sebastian kam sich vor, als sei ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Wie klug war diese Frau eigentlich? Jetzt verstand er, warum sie als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatte.Unterdessen hatte Priscilla das Gefühl, als wäre ihr eiskaltes Wasser über den Rücken gegossen worden. Wer war diese Fremde und warum belehrte sie sie so?

War das der Grund, warum Kaden die Berichte nicht einmal angesehen hatte? Weil er wusste, wie mies sie von ihr zusammengestellt worden waren?

Priscillas Gesicht wurde rot. Sie warf Kaden einen kurzen Blick zu, der ausdruckslos dreinschaute. Doch seine Augen verrieten alles. Sie strahlten vor Stolz und Anerkennung, etwas, was Priscilla noch nie zuvor entgegengebracht worden war.

"D-danke", stammelte Priscilla und senkte den Blick auf den Bericht, in der Hoffnung, ihre Errötung verbergen zu können.

"Um es für alle anderen leichter verständlich zu machen, sollten Sie für die Diagramme und Tabellen Komplementärfarben verwenden", beendete Lina mit einem beruhigenden Lächeln.

Priscilla war erneut schockiert, zwang sich jedoch zu einem nickenden Kopf. Diese Frau nahm sie vollkommen ein. In jenem Augenblick wurde ihr bewusst, dass die Eindringlingin nicht wie ein nasser Socken hinausgeworfen worden war.

So belehrt zu werden, vor all jenen Menschen, deren Respekt sie sich mühsam erkämpft hatte... ihr Gesicht blieb rot. Wollte diese Fremde sie absichtlich bloßstellen?

Priscilla blickte wieder zu Kaden. Ihr Herz sank. Während sie von einer Fremden zurechtgewiesen wurde, hatte Kaden gelächelt.

"Gut gemacht", sagte Kaden, und seine sonst so harte Stimme klang etwas weicher.

Priscillas Herz schmerzte. Sie warf der Frau einen finsteren Blick zu und hielt den Bericht so fest, dass die Seiten zu knittern begannen.

"Und jetzt raus", sagte Kaden zu Sebastian, während er Priscilla ansah.

Priscilla biss sich auf die Zunge. Warum erhielt diese Fremde eine Vorzugsbehandlung? Wer zum Teufel war sie eigentlich?

"Jetzt."

"K-kommen Sie bitte hier entlang, Herr Direktor", stammelte Sebastian und zitterte wie Espenlaub.

Sebastian war das einschüchternde Verhalten seines Chefs zwar gewohnt, fürchtete sich aber dennoch davor, wenn er damit konfrontiert wurde.

Priscilla fürchtete sich nicht. Selbst wenn die Temperatur kälter als in der Antarktis wurde. Und, oh, war das etwa ein Eisbär in der Ecke?

"Schön", spottete Priscilla und schlenderte mit dem Schwung ihrer natürlichen Hüften in Richtung Tür. Sie wusste um ihre Schönheit.

Linas Augen hafteten die ganze Zeit an Priscilla, als diese den Raum verließ.

Plötzlich wurde sich Lina bewusst, dass ihre eigenen Kurven nicht so ausgeprägt waren wie die von Priscilla, und sie umklammerte ihre Handtasche fester. Sie dachte an ihr früheres Leben zurück, als Priscilla einmal in einer kompromittierenden Position mit Kade erwischt wurde.

Ihr Herz klopfte.

"Bin ich so attraktiv, dass Ihnen bei meinem Anblick die Tränen kommen?", fragte Kaden aufrichtig, als er bemerkte, dass ihre Augen wieder feucht wurden.Kaden griff in seine Schublade und stellte eine Schachtel Taschentücher auf seinen Schreibtisch.

„Nimm sie", sagte Kaden und deutete auf die Schachtel. Sie war extra für sie vorbereitet worden. Als die Nachricht sich verbreitete, wusste er, dass sie zu ihm kommen würde.

„Ich brauche sie nicht", murmelte Lina.

„Bist du dir sicher?", neckte Kaden.

Als Lina aufblickte und seinen Blick traf, machte ihr Herz einen Sprung. Seine nachdenklichen Augen waren wunderschön. Seine Iris leuchtete in einem satten Haselnussbraun, wie die einer stolzen Eiche mitten im Wald.

„Steh nicht einfach herum und bewundere mich, setz dich lieber", sagte Kaden und deutete auf die Couch.

Es wurde Lina klar, dass Kaden nur selten Besuch empfing. Die meisten Leute würden Stühle bereitstellen, wenn sie Gäste erwarteten.

Lina wollte sich nicht mit dem Gedanken trösten, dass Priscilla wohl ein unwillkommener oder unerwarteter Gast gewesen sein musste, dem nicht einmal ein Stuhl angeboten wurde. Es war kleinlich, so zu denken.

„Es gibt nichts zu bewundern", sagte Lina schließlich.

Kaden zog eine Augenbraue hoch. „Warum starrst du mich dann an, als wärst du ein staunender Teenager?"

„Das tue ich nicht", entgegnete Lina trocken.

„Doch, das tust du."

„Wirklich nicht", beharrte Lina.

„Doch, du tust es."

„Ich sagte, ich tue es nicht!", entgegnete Lina hitzig.

Stille.

Kaden warf ihr einen scharfen Blick zu, wie ein Lehrer, der seinen Schüler tadelte. Sie klammerte sich fester an ihre Handtasche. Seine Augen verengten sich bei dem Anblick der hässlichen schwarzen Handtasche. Warum benutzte sie nicht die, die er ihr geschenkt hatte? War etwas nicht in Ordnung damit?

„Ich tue es wirklich nicht", wiederholte Lina.

„Gut, dann eben nicht", sagte Kaden.

„Ja", stimmte Lina zu.

„Mmhm."

„Gut", sagte Lina.

„Gut."

Wieder herrschte Stille.

Lina hielt inne und sah sich in seinem Büro um. Die Einrichtung entsprach genau dem, was sie von seinem düsteren Charakter erwartet hatte. Irgendwie fiel ihr Blick wieder auf ihn.

Lina wollte sich nicht zu ihm hingezogen fühlen, aber seine charismatische Art zog sie einfach in den Bann. Groß, dunkle Augen, ein markantes Kinn und eine tragische Vergangenheit … Er war einfach zu gut aussehend, um ihn ignorieren zu können.

„Schau an, du starrst schon wieder", sinnierte Kaden und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Lina beobachtete, wie er den schwarzen Stift zwischen seinen langen Fingerspitzen drehte. Er schenkte ihr seine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit. Nicht so, wie er Priscilla behandelt hatte.

Lina war bestürzt. Sie hatte nicht vor zu vergleichen, aber es war einfach passiert.

„Ah, deine Augen zittern schon wieder, genauso wie deine Beine", bemerkte Kaden.

Lina wünschte sich plötzlich, sie hätte sich gesetzt. Dann hätte sie etwas, um sich abzulenken.

„Ich bin nicht hier, um Wortspielchen mit dir zu treiben", sagte Lina letztendlich.

„Stimmt", beobachtete Kaden sie aufmerksam.

Ihre langen Wimpern zuckten, als sie blinzelte. Er betrachtete ihre Lippen, voll und verführerisch. Er beobachtete, wie sie ihren hübschen kleinen Mund öffnete.

Lina wusste nicht, wie sie das sagen sollte. Aber immerhin war sie es, die diese Entscheidung traf. Nicht ihr Onkel. Nicht ihre Mutter. Nicht ihr Großvater. Diese Entscheidung war ihre eigene.

„Also, warum bist du dann hier?", fragte Kaden langsam, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Lina wusste, es klang verrückt. Sie wusste, dass das Wort jeden Mann abschrecken würde. Ein Engagement schreckte einen Junggesellen oft mehr ab, als seinen Status zu verlieren.

Lina atmete tief durch, erhob ihren Kopf und blickte Kaden direkt in die Augen.

„Kaden, lass uns heiraten."