Ich werde heiraten

Nachdem der Vertrag unterzeichnet und besiegelt war, ging Lina mit einer eigenen Kopie nach Hause. Es war keine Heiratsurkunde, aber definitiv etwas Besseres. Ein verbindlicher Vertrag, der nicht einmal von ihrem Onkel gebrochen werden konnte. Insbesondere da der Name des jungen Meisters DeHaven darauf vermerkt war.

Lina war ehrlich überrascht. Sie hätte nicht gedacht, dass Kaden sie so spät noch nach Hause lassen würde. Kaden hatte dafür gesorgt, dass sein Chauffeur sie heimbrachte.

Nachdenklich schritt Lina durch die Haustür.

„Wo warst du?", erklang eine scharfe Stimme.

Lina schaute auf und erblickte Milo, der an einem Nachttisch lehnte, auf dem eine Vase stand. Mit verschränkten Armen und gespitztem Kinn versuchte er, autoritär zu wirken – soweit das ein Achtzehnjähriger eben kann.

"Weg." Lina lächelte dem Butler zu, der ihr ein Heißtuch reichte, um ihre Hände zu reinigen.

Lina bemerkte das Mehl auf Milos blauem Hemd. Er hatte offensichtlich bis spät gebacken, um den Teig für das Frühstück vorzubereiten. Ihr Bruder war ein begabter Bäcker.

„Oh mein Gott, ernsthaft?" Milo stimmte in schriller Stimme an. „Als ob ich dich nicht gerade um—ach, was weiß ich—um eins nachts durch den Eingang habe kommen sehen!"

Lina verdrehte die Augen. „Wer ist hier das ältere Geschwisterchen?"

„Das müsste ich sein", entgegnete Milo spöttisch. „Ich hätte früher auf die Welt kommen sollen, um dich nach Herzenslust zu triezen."

„Auch wenn du früher geboren wärst, hätte ich immer noch einen kräftigen Schlag drauf", entgegnete Lina und schritt die große Treppe hinauf, die zu ihrem Zimmer führte.

„Und sollte es nicht eigentlich Vaters Rolle sein, mich zu fragen, warum ich so spät heimkomme?", fragte Lina, obwohl beide wussten, wo sich ihr Vater befand – friedlich eingeschlafen wie ein Lamm um neun Uhr abends.

„Da Vater offensichtlich im Bett liegt, in seinen Schlafanzug gekuschelt, muss sich eben jemand anderes darum kümmern", sagte Milo und gestikulierte ausholend auf sich selbst.

„Na ja, du machst aber eine traurige Figur dabei", entgegnete Lina trocken, bog um die Ecke und betrat ihr Zimmer, eine Aktentasche unter dem Arm. Ach ja, die Vorliebe der Geschäftsleute für hässliche Ordner.

„Was hast du da?", fragte Milo und deutete auf die Mappe unter ihrem Arm. Er wettete innerlich, dass sie unangenehm roch.

„Erwachsenenkram", sagte Lina.

„Ach komm, ich bin achtzehn und damit rechtlich erwachsen", entgegnete Milo.

Lina blieb stehen. Milo folgte ihr.

„Ja und?", fragte Milo, als Lina ihm einen langen, durchdringenden Blick zuwarf.

Lina kneifte die Augen zusammen und hätte beinahe eine Lupe hervorgeholt.

„Hm, nein, immer noch kein Schnurrbart oder Bartflaum", sagte Lina. „Noch immer ein Kind."

Milo starrte sie entgeistert an, als hätte sie ihm und seiner gesamten Existenz einen Tiefschlag versetzt.

„Du nimmst das sofort zurück, Lina Yang!", rief Milo und zeigte mit anklagendem Finger auf sie, als hätte sie ihm gerade die Freude ausgetrieben.

„Es gibt nichts zurückzunehmen, wenn es die Wahrheit ist", erwiderte Lina trällernd, ging fröhlich in ihr Zimmer und schlug die Tür vor Milos Nase zu.

Lina spürte, wie Zufriedenheit in ihr aufstieg, glücklich darüber, den Schlagabtausch mit ihrem jüngeren Geschwisterchen gewonnen zu haben. So kleinlich konnte sie sein.

„Nur aus diesem Grund werde ich dir den interessanten Klatsch, den ich zufällig von einem kleinen Vögelchen erfahren habe, nicht verraten!" rief Milo in ihr Zimmer hinein und trat wütend gegen ihre weißen Türen. Als er sah, dass sein Schuh einen Abdruck hinterlassen hatte, konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken. Schnell verging seine Genugtuung.

Verflixt. Das müssten die Dienstmädchen morgen putzen. Wahrscheinlich würden sie das als schlimme Einweihung für die neuen Dienstmädchen nutzen... Und er hoffte, dass es nicht die Nette war, die ihn heute Morgen so böse angesehen hatte.

„Verdammt", murmelte Milo und kniete schnell nieder, um den Dreck von ihren Türen zu wischen.

In diesem Moment schwangen die Türen auf.

„Hoppla!" Milo wäre beinahe vorgefallen, fing sich aber im letzten Moment."Was machst du da auf den Knien vor deiner eigenen Schwester? Ekelhaft", murmelte Lina. "Geh woanders deinen Heiratsantrag üben!"

Lina scheuchte ihn fort, so wie man einen lästigen Hund verscheucht.

"Willst du jetzt den Klatsch hören oder nicht?!", forderte Milo, sprang auf die Beine und starrte sie an. Sie konnte von Glück sagen, dass sie nur ein Geschwister hatten, sonst wäre keiner von ihnen der Liebling des anderen.

"Ich weiß nicht, ich spreche nicht mit Vögeln", konterte Lina trocken.

Milo funkelte sie an, wünschte sich, sie wäre als Junge zur Welt gekommen, nur damit er sie einmal schlagen könnte.

"Na los, erzähl schon", lachte Lina und klopfte ihm auf die Schulter. Wenn er nur nicht so komisch auf ihre Neckereien reagieren würde, würde sie es wohl lassen.

"Onkel war heute bei uns, weil du angeblich nicht in seinem Büro warst", begann Milo.

"Und weiter?"

"Das war's, weil du so unfreundlich zu mir bist", prahlte Milo, verschränkte die Arme und blickte sie triumphierend von oben herab an.

"Erzähl schon", seufzte Lina.

"Nein."

"Milo", presste Lina hervor.

"Ja?"

"Ich meine es ernst", warnte Lina.

Lina war bereit, Milo mit ihren Hausschuhen zu züchtigen. Genau so, wie man Kinder eigentlich erziehen sollte. Leider war er als das jüngere Geschwisterkind zu verwöhnt, um eine solche Erziehung zu erhalten.

"Okay", gab Milo nach. "Onkel war verärgert, weil du das Essen ausgelassen hast. Er war noch aufgebrachter, als er erfuhr, dass du von Kaden entführt wurdest und dann in seinen Armen ohnmächtig geworden bist. Dann wurde er noch wütender, als er erfuhr, dass Papa Kaden erlaubte, dich zu behandeln."

Kaden hatte um Erlaubnis gebeten? Lina war gerührt – selbst wenn es nur das Mindeste war. Manche Leute bekamen nicht einmal das.

Lina konnte nicht glauben, dass Kaden so etwas tun würde. Und dass ihr Vater zugestimmt hatte? Wie hoch waren die Chancen, dass das am selben Tag geschah?

"Onkel hat verlangt, dass du nach Hause kommst, aber Papa hat es abgelehnt und gesagt, dass du nun ein großes Mädchen bist und selber klar kommst", sagte Milo.

"Das überrascht mich", räumte Lina ein. "Papa stellt sich selten gegen Onkel."

"Ich weiß", stimmte Milo zu. "Ich konnte meinen Ohren nicht trauen, aber ich glaube, Großvater hatte seine Finger im Spiel."

Lina erstarrte. Sie vermutete, dass ihr Vater die von ihrem Onkel eingefädelte Zwangsheirat entdeckt hatte, von der nur er profitieren würde.

Kadens Worte leuchteten in ihrem Kopf auf: 'Er hat nicht einmal die Vormundschaft über dich. Was lässt ihn glauben, dass er das Recht hat, dich zu verheiraten?'

"Vater muss wütend auf Onkels Entscheidung sein", dachte Lina laut nach.

"Welche Entscheidung?" fragte Milo naiv.

Lina zuckte zusammen. "Herzlichen Glückwunsch, Milo, Großvater wird dich nicht mehr wegen Urenkeln belästigen."

Milo blinzelte. "Wie bitte?"

"Ich werde heiraten."

Milo fiel in Ohnmacht.