Gedämpfter Schrei

Als Martha das Schlafgemach von Seren verließ, wich die Ruhe in ihrem Gesicht sorgenvollen Gedanken. In Gedanken verloren betrat sie ihr eigenes Zimmer und selbst als sie sich auf einen hölzernen Stuhl neben dem Fenster setzte, blieb die Sorge in ihrem Gesicht bestehen.

Marthas Zimmer grenzte an Serens Gemach. Seit Seren ein kleines Mädchen war, verbrachte Martha jede Wache vom morgendlichen Aufwachen bis zum nächtlichen Einschlafen bei der kleinen Prinzessin. Da die Prinzessin ihr Leben lang in ihrem Turm isoliert war und von der Außenwelt verstoßen wurde, konnte Seren niemandem trauen, außer Martha. Als ihre Kinderfrau hatte Martha seit Serens Geburt an ihrer Seite gestanden.

Die meisten Dienstboten des königlichen Haushalts hatten eigene Unterkünfte, aber als Serens einzige Dienerin wohnte Martha anders - ihr wurde ein Gästezimmer direkt neben dem Schlafgemach der Prinzessin zugewiesen.

Es war vielleicht nur ein wenig kleiner als Serens Zimmer und ohne die standesgemäße Einrichtung eines Adeligen, nur mit dem nötigsten Mobiliar ausgestattet und wirkte im Vergleich zu anderen Wohnräumen recht schmucklos. Das einzige gute daran war, dass Martha ihr Zimmer für sich allein hatte.

Beunruhigt blickte Martha aus dem Fenster und dachte über das Geschehen auf dem Marktplatz nach. Sie konnte nicht fassen, dass Seren verschwunden war, ohne dass sie auch nur eine Ahnung hatte. Sie betrachtete ihre Hände und drehte ihre Finger, als überprüfe sie etwas.

'Verliert dieser Zauber seine Wirkung? Wieso konnte ich ihren Aufenthaltsort nicht feststellen? Er hat bisher nie versagt,' sinnierte Martha verwirrt.

Sie erinnerte sich an die Ereignisse. Nachdem sie für Seren eine Haarnadel gekauft hatte, kehrte sie zurück zum Kleidergeschäft. Doch Seren kam nicht aus der Umkleidekabine, obwohl sie lange gewartet hatte.

Aus Angst, der Prinzessin sei etwas zugestoßen, versuchte Martha, Serens Aufenthaltsort zu spüren, doch sie konnte sie nicht finden. Als sie die leere Umkleidekabine betrat, lag das olivgrüne Kleid, das Seren anprobiert hatte, auf dem Boden.

'Sie muss den Laden verlassen haben.' Martha erkundigte sich bei der Inhaberin, ob es noch einen anderen Ausgang gab, und wie erwartet war die Hintertür offen.

'Dieses Mädchen!' Kopfschüttelnd folgte Martha durch die Hintertür und versuchte, Serens Schritte nachzuverfolgen, denn der Zauber, den sie sonst nutzte, um die Prinzessin zu orten, schien nicht zu funktionieren, und sie wusste nicht, warum.

Erst als sie durch die Gassen eilte und über Serens möglichen Weg nachdachte, wurde Martha bewusst, dass eine unbekannte Kraft ihren Zauber blockierte.

'Was ist das nur? So eine Energie habe ich noch nie gespürt. Warum kann ich sie nicht orten?'

Noch besorgter um Seren, beschleunigte Martha ihre Schritte, auf der Suche nach ihr wie eine verzweifelte Mutter, die gerade ihr Kind in der Menge verloren hatte.

Bald erreichte sie den Marktplatz, wo sich eine aufgebrachte Menge gesammelt hatte. Ohne ein Wort zu hören, wusste sie sofort, dass es mit Seren zu tun haben musste.

"Was ist passiert?" fragte Martha eine Gruppe von Frauen, die miteinander tuschelten, im Gegensatz zu den anderen, die wütend schauten; sie schienen ängstlich.

"Eine Hexe ist hier und sie hat einige Leute verbrannt," war die Antwort einer Frau.

Martha wollte keine weiteren Details hören und eilte in die Richtung, wo sich die meisten Menschen versammelt hatten, und erkannte, dass sie sich einem Ort näherte, an den Seren niemals freiwillig gehen würde.

'Es ist alles meine Schuld. Wie konnte ich nur so unachtsam sein?' Martha verfluchte ihre eigene Nachlässigkeit beim Gedanken daran. "Feuer? Irgendjemand hat sicher etwas getan, um sie zornig zu machen." Sie wusste, dass das Viertel, in dem sie sich befand, von zwielichtigen Männern frequentiert wurde und konnte sich nur zu gut ausmalen, was geschehen sein mochte.Martha bemühte sich erneut, Serens Präsenz zu spüren, runzelte jedoch die Stirn. 'Was oder wer verhindert, dass ich zu ihr durchdringen kann?'

Bald vernahm sie Lärm aus einer nahen Gasse, wo ein wütender Mob den Eingang versperrte und jemandem zurief.

'Sie muss dort sein.' Als Martha näher trat, sah sie, wie die Menge panikartig zurückwich, und sie vernahm eine vertraute männliche Stimme – dieselbe Stimme, die sie beim Verlassen der Verlobungsfeier der zweiten Prinzessin gehört hatte.

"Habe ich euch nicht bereits gewarnt? Möchte es noch jemand wagen?"

Die Furcht ergriffene Meute traute sich nicht zu bewegen, und Martha bahnte sich einen Weg nach vorne. Sie erblickte einen Mann, der ein blutbeflecktes Schwert hielt. Auf der Straße lag eine Leiche, und offensichtlich hatte er den Mann gerade enthauptet.

'Wer ist dieser Mann?' fragte sich Martha und ihr Blick fiel auf den vertrauten Hut, den der Mann in der Hand hielt – Serens Hut.

Da der Mann die Menge verscheucht hatte, stand sie ihm nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sein Verhalten ließ sie ahnen, dass er kein gewöhnlicher Mensch war. Sein Gesichtsausdruck jedoch zeigte Wiedererkennung, er musste jemand aus dem Palast sein. Martha hatte keine Zeit für einen Plausch, sie musste Seren finden, aber intuitiv wusste sie, dass der Mann keine schlechten Absichten hatte.

Als sie näher kam, reichte der Mann ihr den Hut. Ohne Worte zu wechseln, durchquerte Martha die Gasse, überzeugt davon, dass Seren dort sein musste.

Während sie über das Geschehen nachdachte, blickte Martha wieder auf ihre Finger. 'Bin ich deshalb nicht in der Lage sie zu orten?'

Knacken!

Ein plötzliches Knackgeräusch riss Martha aus ihren Gedanken, und sie blickte auf ihr Fenster, in dem nun kleine Risse zu sehen waren.

Sofort stand Martha auf und eilte zu Serens Zimmer.

'Aber ich habe keinen Schrei vernommen.'

-------

Drayce lag bequem im Bett und dachte immer noch an ein Paar schöner lila Augen, als seine höchst empfindlichen Ohren einen gedämpften Schrei auffingen, gefolgt vom Geräusch berstenden Glases.

Drayce stellte fest, dass das Fenster seines Zimmers feine Risse aufwies. Er stieg aus dem Bett und sah nach, ob ein Eindringling draußen einen Stein gegen das Fenster geworfen hatte oder ob vielleicht ein schneller Vogel versehentlich dagegengeschlagen war, doch es war nichts zu sehen.

"Dieser Ort ist merkwürdig", murmelte er und dachte an den gedämpften Schrei, den er eben vernommen hatte. Es war sicherlich die Stimme einer Frau, und sie kam ihm bekannt vor.

Eine Ecke seines Mundes hob sich zu einem kleinen, zufriedenen Grinsen. "Denkt sie an mich und schreit zu dieser späten Stunde? Habe ich die kleine Katze so sehr erschreckt, dass sie Alpträume bekommt?"