Kapitel 8

Angelika saß in ihrem Bett und beobachtete das Feuer im Kamin, während ihre Gedanken davon schweiften. Immer wieder hallte Lord Rayvens Stimme in ihrem Kopf wider, und sie fragte sich, warum sie ihr so vertraut erschien.

Warum hatte sie das Gefühl, seine Stimme bereits zu kennen, obwohl sie sich sicher war, ihn nie sprechen gehört zu haben?

Eine solche Stimme würde sie nicht so einfach vergessen. Sie war tief und rau und wohltuend für die Ohren. Doch der unterschwellige Hauch von Drohung und Gefahr in seinem Ton ließ sie frösteln.

Sie hatte beobachtet, wie er auf seinem Pferd in die Dunkelheit der Nacht davonritt. Etwas an ihm ließ viele Fragen in ihrem Kopf aufkommen. Wer war er wirklich? Und warum überhaupt kümmerte sie das?

Das Buch, in dem sie doch nicht gelesen hatte, legte sie zur Seite und legte sich zum Schlafen nieder. Sie hatte schon lange genug auf die Rückkehr ihres Vaters gewartet, und nun fielen ihre Augen zu. Bald darauf versank sie in tiefen Schlaf.

Am darauffolgenden Morgen weckte sie eine laute Stimme. Angelika war erleichtert, als sie erkannte, dass ihr Vater heimgekehrt war. Er war laut, schrie und fluchte, vielleicht zerbrach er sogar etwas. Die Geräusche zerspringender Gegenstände beunruhigten sie.

Schnell schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und eilte die Treppe hinunter. Ihr Vater brüllte die Dienstmädchen jetzt noch lauter an, und diese waren überrascht, ihn so außer Fassung zu sehen. Ihr Vater kam nie betrunken nach Hause, doch nun war er völlig von Sinnen und roch nach Alkohol. Er konnte kaum stehen und taumelte vor sich hin.

"Vater." Sie eilte zu ihm und wollte seinen Arm ergreifen, um ihm zu helfen, aber er stieß sie weg.

"Er kommt", sagte er mit schwacher Stimme.

Seine Augen huschten panisch durch den Raum.

"Wer kommt?", fragte Angelika.

Er schüttelte den Kopf. "Nein, er ist bereits hier. Er beobachtet uns ständig. Er herrscht über unser Land."

Angelika war verwirrt.

Ihr Vater wandte sich an die Dienstmädchen: "Er tarnt sich. Ihr werdet ihn nicht einmal bemerken, wenn er an euch vorbeigeht."

Angelika verstand nicht, wovon er sprach.

"Ich sollte ihn nicht sehen", keuchte er und umklammerte sich selbst, während er zitterte. "Aber ich habe es getan. Ich habe ihm in die Augen geschaut. Ich habe ihn gesehen."

"Wer ist er?", fragte Angelika.

Hat er etwa den Mörder gesehen? Ihr Herzen setzte aus.

Ihr Vater blickte sie an, Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.

"Er... er ist ... er ist der...", er begann das Gleichgewicht zu verlieren und ehe Angelika ihn festhalten konnte, sank er bewusstlos zu Boden.

Ihr Butler Thomas half dabei, den Vater in sein Zimmer zu bringen, wo er schlafen konnte. Angelika war durch alles Geschehene und die Worte ihres Vaters verstört.

"Weißt du, wen er gemeint haben könnte?", fragte Angelika Thomas.

Er schüttelte den Kopf. "Nein, mein Fräulein."

"Könnte er den Mörder meinen?"

"Ihr Vater diente lange in der Armee. Ich glaube nicht, dass er jemanden fürchtet, der Frauen tötet, aber..." Thomas hielt inne und wirkte nachdenklich.

"Aber was?" Angelika drängte auf eine Antwort.

"Man sagt, es sei kein Mensch, der die Frauen tötet. Manche vermuten, es könnte ein Tier sein."

Ein Tier?

Plötzlich erinnerte sich Angelika an die Worte des Königs, als dieser Lord Rayven beauftragte, sie zu eskortieren. Der König hatte gesagt, Thomas könne sie nicht vor "dem, was auch immer" beschützen, das die Frauen tötete - nicht vor "wem auch immer".

Aber das war dennoch verdächtig. Wäre es ein Tier, sollte es jeden angreifen, nicht nur junge Frauen. Vielleicht tötete jemand die Frauen und machte es wie einen Tierangriff aussehen.

"Welches Tier könnte es sein?", fragte sie.

"Vielleicht ein Bär oder ein Wolf", antwortete er mit einem Achselzucken.

"Warum denken sie, es sei ein Tier?"

"Ich bin nicht sicher, mein Fräulein", erwiderte er.

"Bitte informieren Sie mich, sobald Sie neue Erkenntnisse haben", sagte sie zu ihm.Er nickte.

Als sie das Zimmer ihres Vaters verließ, traf sie auf ihren Bruder, der durch das laute Geräusch geweckt worden war. "Was ist passiert?" fragte er.

"Papa hat etwas zu viel getrunken. Es wird ihm gleich besser gehen", beruhigte sie ihn.

Sie legte ihren Arm um seine Schulter und führte ihn aus dem Zimmer. "Wie wäre es, wenn du dich fertig machst und wir frühstücken gehen?", schlug sie vor.

"In Ordnung", sagte er und lief die Treppe hinauf.

Nachdem sie sich für den Tag bereitgemacht hatten, setzten sie sich ohne ihren Vater zum Frühstück an den Esstisch.

"Können wir uns heute das Turnier ansehen?" fragte William.

Angelika war unschlüssig; sie wollte ihren Vater nicht in Unkenntnis darüber lassen, was mit ihm geschehen war, aber sie wollte auch nicht, dass ihr Bruder unglücklich war. Sie wusste, wie sehr er sich darauf freute, dem Turnier beizuwohnen.

"Natürlich", antwortete Angelika.

Ein Lächeln auf Williams Gesicht zu sehen, machte sie glücklich. William hatte nur sie. Manchmal wurde Angelika traurig bei dem Gedanken daran. Er hatte nie ihre Mutter kennenlernen dürfen und ihr Vater hatte zu viel mit anderen Dingen zu tun, um ein richtiger Vater zu sein. Es lag ihr fern, ihn deshalb zu beschuldigen; schließlich bot er ihnen ein sicheres Zuhause und kümmerte sich auf seine eigene Weise um sie.

Nach dem Frühstück bereitete Thomas die Kutsche vor und wartete draußen auf sie. Gerade als sie aufbrechen wollten, hielt eine königliche Kutsche, eskortiert von zwei Soldaten zu Pferde, vor dem Tor.

Ein Soldat stieg ab und kam auf Angelika zu. "Seid Ihr Lady Davis?" fragte er.

"Ja", antwortete Angelika.

"Seine Majestät, der König, hat Euch eingeladen, ihm beim Turnier Gesellschaft zu leisten. Wir wurden entsendet, um Euch zu eskortieren." Er deutete auf die Kutsche.

Der König hatte also immer noch Interesse an ihr, wie es aussah.

"Nun, ich war gerade dabei, mit meinem Bruder zum Turnier zu fahren. Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn er mich begleitet", sagte Angelika.

"Wenn Ihr das wünscht", erwiderte der Soldat.

Angelika und ihr Bruder stiegen in die königliche Kutsche, und sie fuhren zum Turnierplatz.

Als sie ankamen, stieg Angelika aus und war überrascht, wie viele Menschen gekommen waren, um zuzusehen. Viele Kutschen standen draußen, und fortwährend trafen weitere ein. Eine grüne Kutsche zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wusste, wem sie gehörte.

Eine gut gekleidete Hilde stieg aus und schaute sich um. Ihre Blicke trafen sich, und Angelika spürte die Spannung zwischen ihnen. Das war, bevor Hilde die königliche Kutsche bemerkte, mit der Angelika gekommen war. Dann zog sich eine leichte Sorge in Hildes Stirn und Feindseligkeit lagerte sich in ihren Blick.

Kurz darauf kam Veronika aus Hildes Kutsche. Sie zusammen ankommen zu sehen, bestätigte nur Angelikas Vermutung, dass ihre einstigen Freundinnen sich getroffen hatten. Sie war die Einzige, die allein gekommen war.

Für einen Moment verschwand das Schuldgefühl, das sie gehegt hatte. Warum sollte sie sich schlecht fühlen, wenn sie von ihnen wie eine Fremde behandelt worden war? Doch tief in ihrem Inneren sehnte sie sich immer noch nach der Freundschaft, die sie gehabt hatten, bevor sich alles zum Schlechten gewendet hatte.

Zuerst lächelte Veronika sie an, als sie sie sah, doch als ihr Blick auf die königliche Kutsche hinter Angelika fiel, wandelte sich ihr echtes Lächeln langsam in ein herablassendes.

"My Lady, bitte hier entlang", sagte der Wächter, der ihr ein Zeichen gab, ihm zu folgen.

Angelika löste ihren Blick von ihren ehemaligen Freundinnen und folgte der Wache. Das Turniergelände war gefüllt mit Menschen, die gekommen waren, um den Wettkampf zu verfolgen. Die adeligen Familien saßen getrennt von den Bauern. Der König, seine Männer und die höchstrangigen Adligen saßen für sich.

Die Wache führte sie und William zu der Stelle, an der der König umgeben von seinen Männern saß. Er sprach mit einigen von ihnen in gedämpftem Ton, als sie sich näherten.

"Eure Majestät, Lady Davis ist eingetroffen."

Der König hörte auf zu sprechen und wandte sich ihnen zu. Seine Augen leuchteten auf und seine Lippen formten ein Lächeln.

"Eure Majestät", verbeugte sich Angelika mit einem Knicks.

"Angelika, ich bin froh, dass Ihr kommen konntet", sagte er.

Dann sah er zu ihrem Bruder. "William, wie ich sehe, meisterst du deine Rolle als Beschützer. Ist Euer Vater wohlbehalten heimgekehrt?"

"Ja, Eure Majestät", antwortete ihr Bruder.

"Gut. Bitte nehmt Platz."

Es gab zwei freie Sitze, als hätte er gewusst, dass sie William mitbringen würde. Vielleicht hatte Lord Rayven es ihm mitgeteilt.

Angelika setzte sich neben den König und William nahm neben ihr Platz. Zwei seiner Männer saßen beiderseits von ihnen. Angelika bemerkte, dass alle da waren, außer Lord Rayven. Sie fragte sich, ob auch er am Turnier teilnehmen würde