Kapitel 17

Am nächsten Tag schickte Angelika ihren Bruder, begleitet von Thomas, zu seinen Vorlesungen im Schloss. Sie selbst blieb zu Hause, in der Hoffnung, dass ihr Vater heimkehren könnte. Sie wollte unbedingt die Gelegenheit nutzen, um mit ihm zu sprechen.

Sie verbrachte den ganzen Tag nervös und abgelenkt, unfähig sich auf etwas zu konzentrieren oder an etwas anderes als ihren Vater zu denken. Es machte ihr Übelkeit, und sie hatte kaum Appetit. "My Lady, Ihr esst kaum etwas", merkte Eva besorgt an.

"Es geht mir gut. Bitte richte etwas für William zu. Er wird bald zurück sein."

Als William von seinem Training zurückkehrte, war sie entsetzt, ihn schmutzbedeckt und mit blauen Händen zu sehen. Auch seine Knie waren verletzt und bluteten. Angelika wurde wütend, als sie ihn so erblickte. "Was ist geschehen?", fragte sie.

Er zuckte nur mit den Schultern. "Training."

"So? Deine Hände sehen aus wie zerschlagen, und deine Knie bluten."

William seufzte. "Angelika, man verletzt sich nun mal im Training."

"Aber doch nicht so stark", entgegnete sie.

Er war erst zehn Jahre alt und hätte eigentlich noch gar nicht mit dem Training anfangen dürfen – das wusste auch Lord Rayven. Warum ließ er zu, dass William sich so verletzte? Behandelte er ihn ungerecht aus Feindseligkeit ihr gegenüber?

"Eva, hilf ihm, seine Wunden zu versorgen und sich umzuziehen", wies sie das Dienstmädchen an.

Nachdem Eva mit William fortgegangen war, wandte sich Angelika an Thomas. "Hast du Neuigkeiten von Vater?"

Er schüttelte den Kopf. "Nein, Mylady. Niemand weiß, wo er steckt."

Frustration erfüllte Angelika. Sie wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte. Was ihr Vater tat, blieb für alle ein Rätsel, selbst für Thomas.

"Such weiter nach ihm", sagte sie zu Thomas.

Sie hatte die Hoffnung, ihr Vater würde in dieser Nacht zurückkehren, aber er kam nicht. Sie hatte sich noch nie so sehr gewünscht, dass die Nacht niemals enden möge, doch der Sonnenschein, der durch ihr Fenster fiel, war nicht zu ignorieren.

Nach dem Frühstück führte Thomas ihren Bruder wieder zum Training, bevor er sich erneut auf die Suche nach ihrem Vater machen würde. Zu Angelikas Enttäuschung kehrte Thomas ohne Informationen zurück.

Als ihr Bruder nach dem Training mit noch mehr Verletzungen nach Hause kam, war Angelika nicht nur besorgt, sondern wütend. Sie konnte sich das höhnische Lächeln von Lord Rayven nahezu bildlich vorstellen. Wenn er dies tat, um sie zu ärgern, lag er falsch. Es ärgerte sie nicht bloß - sie war zornig.

"Thomas, bringe mich zum Schloss", befahl sie.

Thomas sah sie verwirrt an, doch er gehorchte ihr ohne Widerworte. Auf dem Weg zum Schloss hoffte Angelika, sich zu beruhigen, tat es aber nicht. Sie war ebenso aufgebracht, als sie ankam und versuchte, den Weg zu den Soldatenunterkünften zu finden; sie hoffte, dem König nicht begegnen zu müssen. Sie war zu aufgewühlt, um klar zu denken.

Angelika fühlte sich wie ein Schaf unter Wölfen, als sie durch die Gänge der Soldatenunterkünfte schritt. Die Blicke der Soldaten hafteten auf ihr. "Entschuldigung", sprach sie einen Soldaten an, dessen Augen erwartungsvoll aufleuchteten. "Wissen Sie, wo ich Lord Rayven finden kann?"

Die Freude in seinen Augen erlosch schnell. "Ich glaube, er ist bei Seiner Majestät, dem König."

Angelikas Kiefer presste sich zusammen. Das war weder etwas, was sie erwartet hatte, noch was sie sich wünschte.

"Danke", sagte sie und eilte davon.

Was sollte sie nun tun? Sie hatte den ganzen Weg auf sich genommen, um mit ihm zu reden, und jetzt einfach zu gehen, kam nicht in Frage. Vielleicht sollte sie in den Soldatenunterkünften warten. Der Gedanke, dort bei den Soldaten zu sein, war ihr lieber als eine Begegnung mit dem König.

Ja, sie würde hierbleiben.Sie blieb abrupt stehen, drehte sich um und wäre beinahe in die Brust einer Person gelaufen. Ein Keuchen entwich ihren Lippen, als sie sich mühte, die Kollision zu verhindern. Als sie aufblickte, trafen ihre Augen auf die des Mannes, den sie suchte.

Wie war das möglich? Sie war sich sicher, dass niemand hinter ihr gewesen war. Wo war er hergekommen?

"Suchen Sie nach mir, Lady Davis?", erklang seine dunkle, heisere Stimme.

Er stand ihr zu nah, also trat sie einen Schritt zurück und richtete sich auf. "Ja", entgegnete sie und wunderte sich im gleichen Moment, wie er darauf kam.

Er hob eine dunkle Augenbraue und wartete darauf, dass sie sprach. Angelika hatte zwar ihre Rede vorbereitet, in seiner Gegenwart jedoch – er war so groß und muskulös, sein Blick so einschüchternd – fragte sie sich, ob sie bei Sinnen war, ihn herauszufordern. Er wirkte, als würde er jemanden allein aus Ärger niedertrampeln.

"Macht es Ihnen Spaß, Menschen zu sehen, die leiden, Lord Rayven?", fragte sie.

"Ja", lautete seine knappe Antwort.

Angelika musterte ihn lange, konnte aber nicht herausfinden, ob er es ernst meinte oder sarkastisch war.

"Ich sehe es nicht gern, wenn mein Bruder verletzt wird. Ihr Job ist es, ihn zu trainieren, und nicht, ihn täglich mit blauen Flecken nach Hause zu schicken. Tun Sie das auch mit den anderen Jungs?"

"Die anderen Jungen sind stärker als Ihr Bruder, er wird deshalb natürlich öfter verletzt", erklärte er.

"Dann sollten Sie vielleicht langsam mit ihm anfangen. Er ist jünger als die anderen."

"Oder vielleicht sollten Sie mir nicht vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe, Lady Davis. Wenn Ihnen meine Methoden nicht gefallen, schicken Sie Ihren Bruder eben nicht zu mir."

Angelika atmete tief durch, um sich zu beruhigen. "Es ist der Traum meines Bruders, und er hat von Seiner Majestät die Erlaubnis bekommen, seine Ausbildung frühzeitig zu beginnen. Ich werde ihn nicht davon abhalten, das zu tun, was er liebt."

"Sind Sie also darauf aus, mich zu stoppen, die Dinge auf meine Art zu machen?", fragte er, während er den Kopf schief legte.

"Ich kann Sie nicht davon abhalten, irgendetwas zu tun, aber wenn meinem Bruder etwas zustößt, werde ich Sie verantwortlich machen."

Er trat einen Schritt auf sie zu, seine Augen verengten sich neugierig. "Und wie gedenken Sie das zu tun, Lady Davis?"

"Das wird eine Überraschung", entgegnete sie und hielt trotz seiner beängstigenden Aura den Kopf hoch.

"Ich mag Überraschungen", sagte er gelassen. "Aber verschwenden Sie nicht Ihre Zeit. Es gibt nichts, was Sie tun können."

Er glaubte wirklich, er sei unberührbar.

"Sie unterschätzen mich, Lord Rayven", sagte sie, obwohl ein Teil ihres Verstandes ihr sagte, sie hätte einfach umdrehen und gehen sollen.

Es war, als lud sie Ärger ein, noch bevor es ihr Vater tun konnte.

Er ging zur Seite, und sie drehte ihren Kopf, um ihn im Blick zu behalten. Dann kam er plötzlich mit großen Schritten auf sie zu, und wie aus einer natürlichen Regung wich sie zurück, bis ihr Rücken die Wand berührte. Ihr Herz sprang ihr bis zum Hals, als sie sich zwischen ihm und der Wand eingeklemmt sah. In Verteidigungshaltung suchte ihr Blick schnell den Flur nach einem Ausweg ab, bevor sie sich der Bedrohung zuwandte, die vor ihr stand.

"Mutig zu sein ist gut, aber töricht mutig zu sein, ist gefährlich", sagte er.

Angelika wusste, dass das eine Warnung war, konnte aber nur daran denken, wie unverschämt es von ihm war, ihr so nahe zu seien. "Gehen Sie weg…" sagte sie und wollte ihn wegschieben, doch er ergriff ihre Handgelenke mit einer Hand und zog sie näher zu sich.

Angelika keuchte, schockiert über seine Dreistigkeit, und versuchte dann, ihre Hände aus seinem Griff zu befreien, jedoch ohne Erfolg.

Er sollte nicht so stark sein. Er hielt sie nur mit einer Hand.

Ihr Widerstand schien ihn zu amüsieren. Er presste ihre Handgelenke an seine Brust; ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Angelika erstarrte.

"Überlegen Sie gut, wen Sie herausfordern, Angel. Die Welt ist voll von Dämonen", warnte er.