Kapitel 27

"William, komm her!", befahl Rayven, nachdem alle Jungen ihr Training beendet hatten.

William trat mit gesenktem Kopf zu ihm.

"Was ist los mit dir?", fragte er.

Heute war er nicht so konzentriert wie sonst.

William sah zu ihm auf. "Ich habe schlecht geschlafen."

"Anscheinend hilft das Lesen nicht mehr."

"Ich habe alle Bücher zu Hause durch. Mir bleibt nichts mehr zum Lesen. Meine Schwester will mir heute ein Buch kaufen", erklärte er.

"Nimm das hier", sagte er und reichte ihm ein Buch. "Komm morgen gut vorbereitet."

William betrachtete das Buch in seinen Händen - Das Monster bin ich - und blickte dann wieder auf. "Was seid Ihr, Mylord?", fragte er direkt.

"Was denkst du, was ich bin?", erwiderte Rayven.

"Ich bin mir nicht sicher", antwortete William.

Interessant, dachte Rayven. Er konnte also spüren, dass er kein Mensch war. Rayven fragte sich, wie er reagieren würde, wenn er ihm die Wahrheit sagen würde. Die meisten Menschen glaubten nicht, wenn man ihnen die Wahrheit zu offen darlegte.

"Ich bin das, was die meisten Menschen einen Dämon nennen."

"Nicht böse? Nur ein Dämon?", hakte er nach.

Rayven runzelte die Stirn. Was war der Unterschied für die Menschen? Für sie waren alle Dämonen böse.

"Ich bin auch böse", antwortete Rayven.

Er wurde nicht ohne Grund bestraft.

William nickte, aber Rayven war sich nicht sicher, warum. Glaubte er ihm oder nicht? Weil sein Herz ruhig blieb, glaubte er ihm wahrscheinlich nicht.

"Ich werde euer Geheimnis wahren", versprach er.

Oh, dieser Junge. Rayven musste kichern.

"Warum würdest du es geheim halten?", fragte er.

Sein Vater war begierig darauf, ihr Geheimnis zu verbreiten, und hier war sein einziger Sohn, der es sicher bewahren wollte.

"Die Menschen fürchten das, was sie nicht verstehen. Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?", fragte er.

Der Junge glaubte wirklich, er könne Angst vor ihm haben? Er hatte ihm gerade gesagt, dass er ein Dämon sei.

"Warum fragst du? Bist du das, was ich vielleicht nicht verstehe?"

"Ich denke schon", sagte er.

"Inwiefern?", fragte Rayven, neugierig geworden.

"Wovon habt Ihr Albträume, Mylord?"

"Von Monstern. Folter. Schmerz."

"Meine handeln von der Zukunft", sagte er leise.

Zukunft? Oh nein, das konnte nicht sein.

"Passiert das, was du in deinen Träumen siehst, auch wirklich?", fragte er vorsichtig.

William nickte.

Wie konnte das sein?

Ein männlicher Prophet?

Sie waren alle weiblich. Deswegen ging das Töten weiter. Sie konnten die weibliche Prophetin nicht finden, weil er ein Mann war.

Jetzt verstand Rayven, warum er die Gedanken des Jungen nicht hören konnte. Das erklärte seine Reife und Weisheit.

Aber warum konnte er Angelicas Gedanken nicht lesen? Es konnte doch nicht zwei von ihnen in derselben Familie geben.

"William", ergriff er den Jungen am Hinterkopf und zwang ihn, in seine Augen zu schauen. "Erzähl niemandem, was du mir gerade gesagt hast. Nicht einmal denen, von denen du glaubst, dass du ihnen vertrauen kannst."

"Ich vertraue Euch, Mylord."

"Tu das nicht!", sagte er scharf.

Zum ersten Mal sah er Angst in den Augen des Jungen. "Habe ich Ärger, Mylord?", flüsterte er.

"Nicht, wenn du es für dich behältst."

William schluckte und nickte.

"Komm, ich bringe dich nach Hause", sagte er.Auf dem Weg zu Williams Haus wurde Rayven klar, was er tat. Was war nur mit ihm los?! Er verfluchte sich selbst. "Ist alles in Ordnung, Mylord?" fragte William ihn. Rayven fühlte sich, als würde er ersticken, sobald ihm bewusst wurde, was er tat. Wann würden sie nur endlich ankommen?

Als die Kutsche schließlich hielt, stieg er schnell aus und atmete die kalte Luft ein. Die Brise trug einen süßen Duft heran, der in ihm etwas aufwühlte. Er weigerte sich, hochzuschauen. Er wollte fliehen, doch sein Blick wurde schon von ihr gefesselt.

"William!" Sie kam ihrem Bruder entgegen und musterte ihn, wahrscheinlich verwundert darüber, warum er ihn mit nach Hause gebracht hatte und nicht ihren Vater. Als sie aber nichts bei ihrem Bruder entdecken konnte, fiel ihr Blick auf ihn.

"Lord Rayven. Was führt Euch zu uns?" Meine Dummheit, antwortete er in Gedanken. Er hielt den Atem an, um ihren Duft nicht einzuatmen. Er wollte keine Sehnsüchte wecken, die er nicht erfüllen konnte. Frauen gehörten nicht zu seinem Leben. Nicht einmal zum Vergnügen nahm er sie, weil er es nicht ertragen konnte, ihre Gedanken darüber zu hören, wie abstoßend sie ihn fanden.

Angelika war mit ihrem feurigen Haar und den ruhigen blauen Augen eine seltene Schönheit. Eine Frau wie sie würde ihm nie Beachtung schenken. Sie hatte sich bereits für Skender entschieden, was wahrscheinlich die bessere Wahl war. Dieser Mann verstand es, Frauen zu bezaubern. Rayven hingegen versetzte sie in Schrecken, noch bevor er den Mund aufmachte.

"Oh", sagte sie und ihre Augen funkelten, als sie sein Buch in Williams Händen sah. "Seid Ihr gekommen, um mir das Buch zu leihen?"

Als ob er sich die Mühe machen würde, so etwas zu tun.

"Nein. Er hat es mir gegeben", sagte William.

"Geschenkt?" Ihre Augen weiteten sich und dann drehte sie sich zu ihm, mit zusammengekniffenen Augen. Ein unbekanntes Gefühl glomm in ihren Augen auf, als sie sein verbranntes Gesicht sah.

"Was ist Euch widerfahren?", fragte sie und runzelte die Stirn.

Er seufzte. "Dein Bruder hat mir sein Geheimnis anvertraut. Du darfst es niemandem verraten."

Schockiert blickte Angelica zu ihrem Bruder, um seine Bestätigung zu erhalten, und William nickte.

Rayven wollte sich abwenden, als er spürte, wie sie seinen Arm ergriff. "Wartet! Versteht Ihr, was das bedeutet? Dass er diese..."

Er löste sich aus ihrem Griff und sah ihr direkt in die Augen. "Du weißt, was es bedeutet. Du glaubst es nur nicht, weil du es noch nie gesehen hast."

Ihre Augen huschten hin und her, bevor sie ihn wieder anblickte.

"Wisst Ihr, wie er es loswerden kann?"

"Das kann er nicht. Es ist eine Gabe und ein Fluch, mit dem er leben muss."

Er wollte erneut gehen, doch sie hielt ihn wieder fest.

Diese Frau. Wie kann sie es wagen?

"Bitte, wenn Ihr einen Weg wisst, sagt es mir", flehte sie. "Er konnte noch nie friedlich schlafen."

Rayven presste die Kiefer zusammen. "Ich weiß von nichts", sagte er und entzog sich ihrem Griff, um zu gehen.

Angelica stellte sich ihm rasch in den Weg. Rayven war schockiert.

"Lord Rayven, Ihr habt meinen Schwellen betreten. Ihr solltet zumindest die Höflichkeit besitzen, ein Gespräch zu Ende zu führen, bevor Ihr geht", sagte sie zu ihm.

Höflichkeit. Sie benutzte Worte, die in seiner Welt keinen Platz hatten.

"Ich höre zu", entgegnete er.

Er schaute ihr nur in die Augen, darauf bedacht, nicht von seiner Neugier abgelenkt zu werden. Doch eine rote Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel, lenkte ihn immer wieder ab.

"Mein Bruder sucht schon länger nach Hilfe. Er hat sich entschieden, Dir sein Geheimnis anzuvertrauen. Gibt es wirklich nichts, was Ihr im Gegenzug tun könnt?"

"Ich befürchte, Dein Bruder könnte enttäuscht werden", sagte er.

"Ich befürchte, Ihr wollt ihn enttäuschen, Mylord", erwiderte sie.

"Weicht von meinem Weg, bevor ich Euch töte", fuhr er sie an.

Rayven musste noch nie jemanden aktiv verscheuchen.

Angelika rührte sich nicht und verengte stattdessen die Augen. Nicht einmal das schreckte sie also ab?

Er horchte auf ihren Herzschlag. Sie hatte ein wenig Angst, aber man sah es ihrem Gesicht nicht an.

Mit welcher Art von Geschöpf hatte er es zu tun? Musste er sie etwa wegschubsen?

Da er nicht Hand an sie legen wollte, wartete er ab. Schließlich nickte sie und ging zur Seite. Sie gab ihm das Zeichen zu gehen. "Habt eine gute Nacht, Mylord."

Rayven ging verwirrt davon.