Haben wir uns verstanden?

Evie untersuchte sich hastig. An ihrem Körper schien nichts Ungewöhnliches zu sein. Der Vampirprinz hatte scheinbar nichts mit ihr angestellt, während sie schlief – das wusste sie einfach irgendwie.

Sie blickte erneut auf sein schlafendes Gesicht und ihre Schultern entspannten sich. Ein langer Seufzer entwich ihren Lippen, bevor sie sich im Raum umsah. Er war weitläufig, und die Fenster waren mit dicken, kastanienbraunen Vorhängen bedeckt. Auch die Decke war sehr hoch. Es war zwar etwas dunkel, doch Evie konnte erkennen, dass Tag war. Wie lange hatte sie geschlafen? Befand sie sich im Dorf jenseits des Dunklen Tals?

Doch nach der Größe des Zimmers zu urteilen, schien es eher einem Herrenzimmer in einem riesigen Schloss zu entsprechen. Gab es in dem allerersten Dorf hinter der Grenze ein riesiges Schloss? Oder war dies vielleicht gar nicht mehr das Dorf?

Der Gedanke, dass sie sich endlich im fremden Land befand, dem Land, von dem sie und ihre Freunde immer angenommen hatten, es sei fast so schrecklich wie die Hölle selbst, veranlasste sie, sich unbewusst zu umarmen. Sie zitterte nicht vor Angst, aber das eigenartige Gefühl in der Magengegend ließ ihr Herz vor Ungewissheit wieder heftig schlagen. Was würde mit ihr in diesem Land der Nachtschwärmer geschehen? Sie musste bitter in sich hineinlachen – echte, lebendige Blutsauger waren es, wortwörtlich, und nicht bloß eine Redewendung.

"Endlich bist du wach", ließ eine angenehme, heisere Stimme ihre Schultern zucken und ihren Rücken gerade werden. Ihr Kopf schnappte in Richtung des faszinierenden Mannes herum, doch sein Rücken war ihr bereits zugewandt, da er sich vom Bett erhob.

Evie konnte nicht anders, als ihre Ohren beim Anblick seines breiten und perfekt modellierten Rückens heiß werden zu fühlen. Sie war dankbar, dass zumindest seine Unterkörperhälfte vollständig bekleidet war. Sie sah ihm zu, wie er mit Anmut zu den großen Fenstern ging und den Vorhang ein wenig öffnete, gerade genug, um das Zimmer mit Licht zu füllen.

Das hereinströmende Licht blendete Evie leicht. Aber bei allen guten Gottheiten... Evie konnte nicht anders, als zu staunen, denn der Mann war blendender als das Licht selbst. Und sie konnte sich nicht einmal zurechtweisen und sagen, dass sie übertreibe. Denn sie wusste, dass es nicht so war, und das war nicht fair! Gott sei Dank bewahrte sie ihre Würde, indem sie es schaffte, den Mund nicht peinlich berührt offen stehen zu lassen.

Es kostete sie Mühe, ihren Blick von ihm abzuwenden. Sie fühlte sich beschämt, weil sie geglaubt hatte, sie könnte keinem Vampir ins Gesicht schauen. Wer hätte gedacht, dass sie sich stattdessen damit herumschlagen würde, den Blick abzuwenden? Das war... lächerlich unglaublich!

"Geht es dir gut?", tauchte das Gesicht, von dem sie so verzweifelt versucht hatte wegzuschauen, plötzlich direkt vor ihr auf und sie schnappte fast nach Luft. "Du hast seit gestern geschlafen, Evielyn", fügte er hinzu, und Evie hätte ihm beinahe den besorgten Blick abgekauft. Aber sie wagte es nicht. Sie konnte es nicht wagen zu glauben, dass er wirklich besorgt um sie war, trotz seiner Sanftheit und Fürsorge für sie seit ihrer Hochzeit und auf dieser harten Reise.

Sie konnte es nicht wagen zu glauben, dass all seine ritterlichen Gesten aufrichtig waren. Denn Evie war im Vorfeld von ihren Eltern und den Kaisern gewarnt worden, stets wachsam und vorsichtig zu sein, da die Vampire sicherlich alles versuchen würden, um ihr Vertrauen zu erlangen und dann Informationen von ihr zu erhalten. Schließlich wussten die Menschen, dass die Vampire weiterhin misstrauisch gegenüber dem eigentlichen Grund für den von den Menschen angebotenen Waffenstillstand sein würden. Sie waren schließlich keine Idioten. Sie waren intelligente und durchtriebene Wesen, wie die Kaiser sie nannten. Sie würden so weit gehen, ihre Schönheit und ihren Charme einzusetzen, um die armen Menschen zu bezaubern und sie zur Unterwerfung zu bringen. Und Evie hatte nicht nur ihren Eltern und den Kaisern geschworen, sondern auch sich selbst, dass sie niemals zulassen würde, von einem Vampir getäuscht oder verzaubert zu werden, nicht einmal von diesem Prinzen, ihrem eigenen Ehemann."Mir geht es gut", antwortete Evie, und sie konnte es nicht fassen, dass sie ihn erneut anstarrte – diesmal sogar mit einem strengen Blick. "Du... warum... warum", sie rang nach Atem, "schläfst du... neben mir?" Evie brachte den Gedanken, der sie quälte, stotternd hervor, doch so verunsichert, wie sie war, klang ihr Satz seltsam.

Das Paar mondartiger Augen weitete sich leicht und verengte sich dann wieder, als er sie ansah. Im nächsten Moment war er direkt vor Evies Gesicht. Seine Hände lagen auf dem Bett, während er sich zu ihr hinüberbeugte. Evie hielt den Atem an. Das Bild von ihm, wie sie ihn an jenem Tag im Dunklen Tal gesehen hatte, blitzte in ihren Gedanken auf, und ihr Körper verkrampfte sich.

"Warum?", wiederholte er, die Mundwinkel ungläubig verzogen. "Du fragst mich, warum ich neben dir schlafe?" Seine Stimme klang unerwartet ruhig, aber Evie vernahm etwas wie Zorn oder große Missbilligung in seinem angenehm tiefen Ton.

Evie schluckte, öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Ihr fiel plötzlich nichts zu sagen ein. Es war, als versagte ihr Verstand, sobald sie ihm in die Augen sah. Und alles, was sie tat, war, zu beobachten, wie seine silbernen Augen sich schlossen und einen leisen Atemhauch direkt vor ihrem Gesicht ausstießen. Unbewusst zuckte sie zurück, als ihr Verstand seinen kühlen Hauch registrierte, der über ihre Wangen strich.

Sein Blick flackerte auf bei ihrer plötzlichen Bewegung und er starrte sie erneut an, still, aber intensiv, bevor er frustriert auf seine Unterlippe biss. "Bist du immer noch nicht ganz wach? Gut." Er nickte, als ob er mit sich selbst reden würde. "Ich schlafe neben dir, weil ich dein Mann bin und du meine Frau bist." Seine Stimme war ernst, fast schon spöttisch.

Evie musste den Blick abwenden, denn das Anstarren dieser silbernen Mondaugen lenkte sie zu sehr ab. Sie durfte sich nicht von seinem Blick zum Schweigen bringen lassen. Sie musste antworten. Doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, sprach der Vampirprinz wieder.

"Sag mal, Evielyn", seine Augen wirkten düster. "Die Abmachung war, dass ich dich ohne deine Zustimmung nicht berühren darf, und ich habe versprochen, mich daran zu halten und mich dir niemals aufzuzwingen oder dir Schaden zuzufügen. Aber es scheint, als ob für dich diese Worte nicht dieselbe Bedeutung haben wie für mich? Deine Reaktion ist so, als ob ich nicht im selben Zimmer sein und nicht im selben Bett liegen dürfte wie du. Liege ich richtig, Evielyn?"

Er biss sich erneut auf die Lippe, diesmal härter. Evie versteifte sich, denn sie spürte, wie die Atmosphäre schwer wurde. Angst begann sie zu erfassen, aus Sorge, seine Augen könnten rot werden. Aber das taten sie nicht.

"Hör zu", seine Stimme wurde ruhig, ganz ruhig. "Wenn das deine Auffassung davon ist, dann entschuldige ich mich, meine Frau. Aber du musst verstehen, dass das völlig abwegig ist und ich solchen Unsinn nicht akzeptieren werde. Du und ich sind verheiratet, dementsprechend werden wir im selben Zimmer bleiben und im selben Bett schlafen. Ist das klar?"