Versuchung

Schließlich kam Evie aus dem seltsamen, aber gefühlvollen Rausch, in den sie das köstliche Steak versetzt hatte, während sie jeden einzelnen Bissen genossen hatte, wieder zu sich. Sie konnte nicht fassen, dass sie sich von etwas so Alltäglichem wie Essen hatte forttragen lassen, auf eine Reise in die Wolken, die ihr alles andere hatte vergessen machen. Doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Essen zwar grundlegend ist, dieses Stück Steak aber ganz und gar nicht gewöhnlich war. Es war weit davon entfernt, gewöhnlich zu sein!

Sie konnte ebenfalls nicht glauben, dass sie sich wie ein Kind hatte füttern lassen. Und sogar einem Prinzen dies gestattet hatte... Herrgott, Evie!

Verdutzt saß Evie da, reglos, während Gavriels Hand, mit der er ihr ein weiteres Stück Steak hatte geben wollen, unschlüssig in der Luft hing.

Er bewegte das Steak näher zu ihren Lippen, was Evie erneut zusammenzucken ließ. Daraufhin klappte sie blitzartig die Augen zu und holte tief Luft, weil sie sich an die Worte ihres frisch Angetrauten erinnerte, der nicht wollte, dass seine Frau vor ihm zurückzuckte. Nach diesem tiefen, stärkenden Atemzug öffnete sie die Augen und hob mutig ihre Hand, um Gavriels Handgelenk zu ergreifen, damit sie sanft das Steak beiseiteschieben konnte ohne unhöflich oder ungebührlich zu wirken.

"Ich... Ich kann allein essen, Eure Hoheit." Sie errötete zutiefst, als sie diese Worte stammelnd von sich gab, und als ihr schließlich klar wurde, dass sie immer noch sein Handgelenk – ein sehr starkes, aber auch verführerisches Handgelenk, wie sie hinzufügen wollte – festhielt, zog sie ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt, bevor sie den Blick verlegen von ihm abwandte. Sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass Rauch aus ihren glühend heißen Ohren wirbelte, während sie spürte, wie sein Blick auf ihrem Gesicht verweilte. Was tat sie da? Ihre Wachsamkeit wegen eines köstlichen Steaks einfach so sinken zu lassen! War sie wirklich so leicht zu ködern wie ein Kind? Nie hätte sie gedacht, dass die Verlockung eines Tellers Essen sie so einfach einfangen könnte – ohne Wenn und Aber!

Aber das war auch kein gewöhnlicher Teller Essen! Dieses Steak war so göttlich, dass es fast sündhaft war! Sie verfiel in ihre alte Angewohnheit, mit sich selbst zu streiten, wenn sie etwas richtig aus der Fassung brachte, und dieses Steak hatte sie definitiv aus der Fassung gebracht. Doch übersah sie dabei, dass dies nur dann geschah, wenn sie sich in ihrer Umgebung vollkommen wohl fühlte. Zuhause war das noch nachvollziehbar. Aber jetzt befand sie sich in feindlichem Territorium.

Während Evie mit sich selbst haderte, lehnte sich Gavriel zurück. Sein Lächeln war verschwunden, denn der Effekt des Essens war vorüber, und das kleine Häschen war wieder wachsam und auf der Hut. 'Schade', dachte er. Es hatte ihm Spaß gemacht, sie zu füttern, und sie war so niedlich, wenn sie entspannt war. Gerne würde er sie bei jeder gemeinsamen Mahlzeit so füttern. Er wünschte, er könnte weitermachen ihr zu füttern, doch der Anblick ihrer angespannten Schultern ließ ihn still zurückweichen.

Ohne ein Wort zu sagen, steckte er sich das Steak in den Mund, und benutzte dabei die gleiche Gabel, die er zuvor für sie benutzt hatte. Er bemerkte nicht, wie sie ihm heimlich einen Blick zuwarf und beobachtete, wie er das Stück Steak aß, das eben noch ihre Lippen berührt hatte. Er sah auch nicht, wie ihr Gesicht rot anlief, bevor sie ihren Blick hektisch von seinem Gesicht abwandte und wieder auf ihren eigenen Teller richtete.

Nach dem Essen hatten das Paar gerade den Speisesaal verlassen, als Gavriel das Wort ergriff.

"Ich würde dir gern das Schloss zeigen, aber der Kaiser hat um deine Anwesenheit im kaiserlichen Palast gebeten, sobald du aufgewacht bist." Sagte er, und wie erwartet versteifte sich Evie.

Sie blieb stehen und sah ihn mit großen Augen an. "Du meinst... jetzt?!"

"Ja. Sobald du bereit bist, bringe ich dich dorthin."

"Aber es ist bereits dunkel…" Ihre Stimme verstummte, als ihr klar wurde, was sie gerade gesagt hatte. Wie konnte sie vergessen, dass für die Vampire die Nacht ihr Tag war?

"Ich zeige dir auf dem Weg dort hin die Hauptstadt." Er fügte hinzu. "Du hast geschlafen, als wir kamen, also hast du nichts gesehen. Ich denke, es könnte dir gefallen."Evie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zögerte jedoch und schloss ihn wieder. Wieso tat sie sich nur so schwer damit, eine plausible Ausrede zu finden? Ehrlich gesagt, musste sie sich nicht so abmühen und die 'Einladung' einfach ablehnen. Man hatte ihr gesagt, sie solle ablehnen, und das wollte sie auch. Aber warum konnte sie nicht einfach herzlos 'nein' sagen, wie geplant? Sie musste ablehnen!

Bevor sie jedoch wieder ansetzen konnte, sprach Gavriel bereits mit ihren Zofen, um sie auf ihren ersten Auftritt beim Kaiser vorzubereiten.

"Ja, Eure Hoheit," entgegneten die beiden und näherten sich aufgeregt Evie, deren Augen funkelten.

"W-warte ... Gavriel, ich ..."

"Ja?", fragte er und lehnte sich plötzlich dicht an sie heran. So dicht, dass Evie vorübergehend wieder von der Schönheit ihres Mannes überwältigt wurde und sie vergaß, was sie sagen wollte. "Hab keine Angst, ich bin hier, um dich zu beschützen. Geh jetzt und mach dich fertig, ich warte unten."

Mit diesen Worten verließ er den Raum, und Evie tadelt sich still dafür, so schwach zu sein – so hilflos gegen diese Anziehungskraft. Oh bitte, Evie. Du darfst dich nicht so leicht beeinflussen lassen! Das darfst du nicht!

Sie versuchte sich gedanklich wachzurütteln, in der Hoffnung, besser die Kontrolle über ihren Verstand zu erlangen. Während die Zofen sie in den Ankleideraum führten, grübelte Evie darüber nach, wie sie den Versuchungen widerstehen könnte. Sie erkannte ihre größte Schwäche – Essen und die Schönheit ihres Mannes. Was konnte sie tun, um ihre Widerstandskraft gegen diese beiden Dinge zu stärken? Essen ist lebensnotwendig! Wie konnte sie da noch 'nein' sagen?

Versunken in ihre eigene Welt überlegte Evie weiter, wie sie dieses Dilemma lösen könnte, und bemerkte nicht, wie die Zeit verstrich, bis Frays Stimme sie erreichte: "My Lady, ist alles in Ordnung?"

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. "Ja?"

Die Zofe lächelte sie an. "Wir sind fertig, My Lady. Sie sehen umwerfend aus!" lobten die Zofen, als sie sich umdrehte, um sich selbst im Spiegel zu betrachten. Ihre Lippen öffneten sich überrascht und ehrfürchtig. "Ich kann kaum erwarten zu sehen, wie Seine Hoheit reagiert, wenn er Sie sieht!"

"Genau," fiel Gina ein. "Jetzt sollten wir gehen, My Lady. Wir dürfen Seine Hoheit nicht länger warten lassen." Sie drängte fröhlich, und Evie ließ sich nur von ihnen aus dem Raum führen.

Als sie die große Treppe hinabstieg, konnte Evie nicht verstehen, warum ihr Herz plötzlich schneller schlug und laut in ihren Ohren pochte. Oh je, war sie etwa nervös? Und warum? Wegen Gavriel? Sicher nicht, oder? Es musste an der bevorstehenden Begegnung mit dem Vampirkaiser liegen – dem größten Feind der Menschheit. Darauf war sie nicht vorbereitet! Kann sie sich immer noch zurückziehen? Gewiss! Sie konnte jederzeit absagen. Niemand hier konnte sie zwingen, nicht einmal Gavriel.

Evie klammerte sich so fest an ihr Kleid, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Sie war so in ihre eigene missliche Lage vertieft, dass sie aufschreckte, als eine Hand vor ihr erschien. Als sie realisierte, dass sie den letzten Schritt erreicht hatte und die Hand ergriff, um benommen aufzublicken, läuteten in ihrem Kopf die Alarmglocken und sie konnte nur ein einziges Wort verstehen, das in ihr geschrien wurde: VERSUCHUNG!