Unsere Geschichte - Teil 1

'ELIA

"Reth?" sagte sie mit einer zu hohen Stimme. "Wofür dankbar?"

Er seufzte schwer und rückte ein Stück zurück, sodass mehr Platz zwischen ihnen war. Innerlich verfluchte sie ihn – er wollte sie gerade küssen! Doch jenes Gefühl in ihr regte sich erneut. Als sei sie schon einmal hier gewesen. Als hätte sie ihn schon mal in der Dunkelheit gesehen.

"Reth, was ist hier los?"

Er hielt noch immer ihre Hand und seine Finger strichen unterhalb ihres Handgelenks auf und ab, was ihr Schauer über den Arm jagte. Es war einfach nicht fair, wie er sie mit einer derart sanften Berührung zum Prickeln bringen konnte. Also zog sie ihre Hand weg, um sich sammeln zu können.

Selbst im Dunkeln konnte sie seine Silhouette erkennen. Seine Schultern hingen nach unten.

"Elia, es gibt einen Grund, warum die Wölfe gerade dich ausgewählt haben."

Sie nickte. "Weil ich schwach bin und sie dachten, Lucine würde mich leicht besiegen können."

"Ja, aber es gibt viele schwache, jungfräuliche Waisen in der Menschenwelt. Sie haben dich gezielt ausgesucht, weil sie wussten, dass es mich verunsichern würde."

Sie runzelte die Stirn. "Warum das?"

Reth fuhr sich mit der Hand durch die Haare, dann erhob er sich und trat auf den Boden herab. Elia bewegte sich nicht, doch sie zog die Felle enger um sich, plötzlich fröstelnd.

"Als ich Kind war, gab es einen Machtkampf um die Krone. Die meines Vaters", sagte er. "Ich war erst acht Jahre alt und noch nicht in der Pubertät. Ich war die Schwachstelle ihrer Verteidigung. Sie fürchteten, unsere Feinde könnten mich gegen sie einsetzen. Also... schickten sie mich mit einem Wächter in die Menschenwelt, um mich zu beschützen. Um mich vor den Anima zu verbergen, bis die Rebellion niedergeschlagen war. Sie rechneten mit ein paar Monaten. Es wurden fast zwei Jahre."

Er schluckte und wühlte erneut mit der Hand in seinen Haaren. "Es war eine sehr schwierige Zeit für mich", sagte er. "Anima leben in Familienverbänden, besonders wenn es noch Junge gibt. Ich war es gewohnt, von Menschen umgeben zu sein, die ich kannte und die mir Hilfe und Lehre boten. Plötzlich in diese kalte, entfernte Welt versetzt zu werden, mit nur zwei Lehrern und... die Sitten waren so anders. Ich war alt genug, um zu wissen, ich dürfte niemandem sagen, was ich war – ich durfte ihnen die Unterschiede zwischen uns nicht zeigen. Doch ich war noch nicht alt genug, um diese Unterschiede wirklich zu verstehen. Oder die Auswirkungen, die meine Instinkte auf die Menschen haben würden. Ich war... auffällig anders. Ich verängstigte die Menschen, obwohl sie nicht wussten, warum."Er hörte auf, auf und ab zu gehen und wandte sich ihr zu. "Bis auf eine Person. Ein Mädchen. Eine Nachbarin. Sie teilte meine Liebe zu Tieren. Sie war zwei Jahre jünger als ich und noch immer an Spielen interessiert – sie tat so, als ob sie Tiere wäre, und irgendwie… es tröstete mich. Sie bewunderte immer, wie gut ich Tiere nachahmen konnte. Die Geräusche, die ich von mir gab. Sie hinterfragte meine Instinkte nicht, sie bewunderte sie. Und wenn andere misstrauisch wurden oder sich unwohl fühlten... verteidigte sie mich. Sogar gegenüber ihren eigenen Eltern."

Nein, das konnte nicht sein. Elia blieb der Mund offen stehen. "Gareth?!" stieß sie hervor, mit erstickter Stimme.

Er nickte. "Ein paar Wochen bevor ich die Welt der Menschen verließ – ich war zu diesem Zeitpunkt zehn und sie acht – gab es einen... Zwischenfall. Wir spielten im Wald hinter unseren Häusern. Nur wir zwei, wie üblich, denn die anderen Kinder wollten nicht in meiner Nähe sein. Ich erschreckte sie. Aber an diesem Tag waren wir nicht alleine im Wald. Das wusste sie aber nicht. Sie hatte keine Ahnung, dass ich immer andere Lebewesen witterte, wenn wir spielten – immer. Normalerweise nur Wildtiere oder ab und zu einen Hund. Doch an diesem Tag roch ich Menschen. Männliche. Älter als wir, aber immer noch selbst Jugendliche. Sie beobachteten sie. Und ich konnte ihr Flüstern hören. Ich wusste, was sie im Sinn hatten – obwohl ich noch zu jung war, um zu verstehen warum. Ich roch das Raubtier in ihnen. Und die Begierde. Ich hörte, wie sie planten, uns zu trennen. Also packte ich ihren Arm und zog sie mit mir, trotz ihrer Proteste. Sie verstand es nicht, und ich war zu unreif, es ihr zu erklären – bei den Anima versteht man, wenn jemand warnt, folgt man ihren Instinkten. Man nimmt an, dass sie etwas wahrnehmen, was man selbst nicht kann. Aber sie wehrte sich gegen mich, und das machte mich wütend, weil ich sie vor den Jugendlichen retten wollte.

"Aber ich stand kurz vor meiner eigenen Reifezeit. Ich war viel stärker als sie. Also ignorierte ich ihr Sträuben und Zappeln und zog sie einfach mit mir. Als wir dann im Garten meines Hauses ankamen, weinte sie bereits. Ich hatte sie dorthin gebracht, weil ich wusste, dass meine Vormünder helfen würden – sie würden die Jugendlichen suchen und sicherstellen, dass sie niemandem etwas tun würden. Doch sie war so aufgebracht, dass sie anfing, mich zu beschimpfen, nannte mich Namen und beschuldigte mich, ihre Verletzungen verursacht zu haben. Und sie hielt ihr Handgelenk fest, das ich benutzt hatte, um sie herauszuziehen.

"Mir war das nicht bewusst. Ich hatte solche Angst um sie, und war frustriert darüber, dass sie mich bekämpfte... Beinahe hätte ich... Ich hatte ihre Handgelenke mit meinen Nägeln aufgekratzt." Er schluckte.

Elias Kopf schwirrte. Dies war eine Seite der Geschichte, die ihr nie bekannt gewesen war.

"Ich bin immer ein Alpha gewesen, schon damals. Oftmals war ich aggressiv und herrisch – ich wurde zum Herrschen erzogen. Aber die Menschen schätzen das nicht in einem Kind. Sie war es gewohnt, dass ich sie herumkommandierte, normalerweise war ich aber sanftmütig. Ich hatte ihr nie wehgetan. Das hatte sie immer den Leuten sagen können, wenn sie Verdacht gegen mich äußerten. Sie war... stolz auf mich. Auf meine Stärke. Und darauf, dass ich sie nie gegen sie eingesetzt hatte."

Er drehte sich dann um, und seine Augen schienen in der Dunkelheit zu leuchten, als sie auf die ihren trafen. Die Intensität seines Blicks raubte Elia den Atem.

"Sie lief weinend nach Hause und ihre Eltern kamen noch am selben Abend zu meinen Wächtern. Sie... setzten Grenzen. Wir durften nie wieder alleine sein. Sie durfte nicht mehr zu uns nach Hause kommen und ich durfte nur noch zu ihr, wenn die Eltern zugegen waren, um uns zu überwachen. Die Schnitte an ihrem Handgelenk waren nicht tief, aber sie bluteten. Sie stand da, mit roten Augen, neben ihnen, ihr kleines Handgelenk umwickelt in einem weißen Verband, der mich mit der Nase rümpfen ließ, weil er so scharf roch."

"Das Jod", flüsterte sie.

Er nickte. "Aber ihre Eltern dachten, ich würde Grimassen schneiden – dass ich sie nicht respektiere. Ich war mir meines Ausdrucks völlig unbewusst. Ich wollte nur riechen, ob es ihr gut geht. Ich versuchte, von den Jugendlichen zu erzählen, aber meine Wächter, die besser als ich in meinem jungen Alter verstanden, dass Menschen niemals glauben würden, dass ich die Pläne von Leuten kannte, die wir nie gesehen hatten, unterbrachen mich und entschuldigten sich für mich.

"Das machte mich wütend – das ist noch gelinde ausgedrückt. Ich war verwirrt über die ganze Situation. Ich hatte versucht, ihr zu helfen, sie zu beschützen. Warum verhielten sich alle, als hätte ich etwas Falsches getan? Als hätte ich sie verletzt? Sie lag mir am Herzen – und ich wusste, sie mochte mich. Sie war die einzige Person in der menschlichen Welt, von der ich das mit Sicherheit sagen konnte. Sie weinen und mich beschuldigen zu sehen... zu sehen, wie sie mir nicht in die Augen sehen konnte... das ängstigte mich. Ich wollte sie nicht verlieren. Aber ich war auch arrogant und wütend. Ich wusste, dass ich das Richtige getan hatte. Ich konnte nicht verstehen, warum das niemand sonst so sah." Er schluckte schwer.

"Es beruhigte sich irgendwie, meistens. Doch die Regeln blieben bestehen. Wir waren nie wieder allein. Deshalb konnte ich es nie erklären. Ich habe sie sehr vermisst. Früher spielten wir jeden Tag zusammen, wenn sie von der Schule nach Hause kam. Nun sagten ihre Eltern oft nein oder erlaubten uns nur eine Stunde zu spielen – und nie draußen. Ich hatte Probleme damit, ständig in den beengten, unnatürlichen Räumen der Menschenhäuser zu bleiben. Also... manchmal ging ich nicht mehr zu ihr. Manchmal ging ich allein in den Wald." Er hielt inne und atmete tief durch. "Aber ich habe mir immer gewünscht, sie wäre dabei."