Du machst mir Angst

Adeline berührte behutsam die Halskette. Eine winzige, rosafarbene Rose, umschloss einen gläsernen Tropfen, geformt wie eine Träne, die sie an ihre wahre Identität erinnerte. Einst stand die Kette für etwas ganz Anderes, doch diese Bedeutung war längst verloren gegangen. Sie umfasste das Glas, kalt bei der Berührung und doch erfüllt von Leben.

"Sie steht dir gut", murmelte Elias sanft.

Sein Brustkorb vibrierte leicht bei jedem Wort. Sie war nah genug, um das zu spüren, aber zu weit entfernt, um sein Herz zu hören – vorausgesetzt, er besaß überhaupt eines…

"Eine kleine Blume für ein zartes Röschen", sagte er spöttisch. "Völlig allein auf dieser Welt, ohne Freunde oder Familie."

Adeline überging den Anspielung auf ihren Nachnamen. Sie blieb stattdessen bei der Kette. Manchmal war sie warm.

Vor langer Zeit hatte sie sie berührt und all ihre Probleme schienen sich aufzulösen. Jetzt wusste sie, dass die Rose im Glas nicht echt war. Sie verwelkte nicht, egal wie viele Jahre vergingen.

"Du hast erwähnt, dass du bei der Geburt der ersten Prinzessin von Kastrem zugegen warst", flüsterte sie leise. "Wie alt bist du dann?"

Elias hob eine Augenbraue. Seine Finger glitten sachte über ihr Schlüsselbein und zogen Kreise auf ihrer glatten, elfenbeinfarbenen Haut.

"Ich glaube nicht, dass dir die Antwort gefallen würde."

"Ich möchte es trotzdem wissen…", beharrte sie.

Elias lächelte vielsagend. "Du warst schon immer neugierig, nicht wahr?"

Adeline nickte.

Er griff hinter ihren Kopf, wo seine Finger die Stecknadeln fanden, welche die kleine Hochsteckfrisur zusammenhielten. Mit einer schnellen Bewegung löste er ihr Haar, das in einem Schwall herabfiel.

"Das muss du nicht wissen." Elias strich ihr Haar über ihre Schultern, so dass es ihren verführerischen Hals bedeckte.

"Aber—"

"Es wird spät", sagte Elias trocken. "Junge Damen wie du sollten im Bett sein."

Adeline war dankbar, dass er keinen weiteren scharfen Kommentar machte, obwohl sie verwirrt darüber war, warum er mit ihrem Haar spielte. Es fiel ordentlich, aber zu seinem Ärger verhedderte sich ein Strang an seinem großen Rubinstein. Seine Augen verengten sich im Ärger.

"Hier, ich helfe dir", stotterte Adeline.

Vorsichtig hob sie ihre Hand und befreite ihr Haar langsam, aber sicher aus dem Ring. Sie unterdrückte den Schmerz und tat so, als ob er nicht existierte.

Bald war sein Ring nicht mehr in ihrem widerspenstigen, strohblonden Haar gefangen. Ihr Haar hatte zudem die Textur eines solchen.

Es missfiel Adeline, wie ungezähmt ihr Haar manchmal war. Es verhielt sich, als hätte es einen eigenen Kopf, wild und zerzaust, sobald sie erwachte.

"Könntest du mir ein Auto geben, damit ich nach Hause kommen kann?", fragte sie mit leiser Stimme und hoffte, er wäre nicht zynisch genug, sie die weit Strecke zu Fuß zurückschicken zu lassen.

"Nach Hause?" seine Stimme wurde schärfer.

Adeline nickte. "Ja, nach Marden, das Anwesen am Stadtrand—"

"Von jetzt an ist dies dein neues Zuhause, Adeline."

Adeline erschrak. Sie blickte sofort auf, und ihre Lippen öffneten sich. Sie trat einen Schritt zurück, auch wenn sie nirgendwo hingehen konnte.

"Aber … aber …"

"Kleider, Juwelen, Schuhe, du wirst alles haben, was du brauchst."

Adelines Griff um die Kette wurde fester. Es war ihr zuwider, sich zu beklagen oder ihre Unzufriedenheit zu zeigen. Er brachte das Schlechteste in ihr hervor. Sie spürte, wie ihr ein Streit in der Kehle aufstieg.

"Außerdem", sagte Elias mit schneidender Stimme und gleichzeitig ruhigem Lächeln, das den Sturm in seinen Augen verriet. "Es ist weit nach Mitternacht. Du würdest alle im Marden-Anwesen stören, wenn du jetzt heimkehrst."

Adeline hauchte zittrig aus. Wie konnte er mit solch unbändigen Augen so gelassen lächeln? Ihre Worte mussten ihn verärgert haben, aber sicherlich nicht in diesem Ausmaß...? Er wirkte, als wäre er bereit jemanden zu töten, aber langsam und qualvoll. Die Luft um sie herum wurde frostig, als die Temperatur fiel.

"E-Elias", keuchte sie.

"Ja, Liebling?"

"D-Du machst mir Angst."

"Das scheint ein persönliches Problem zu sein", sinnierte er.

Als sie sich vor ihm zurückzog, ließ er sein Lächeln fallen.

"Komm, kleines Reh", murmelte er leise. "Ich bringe dich auf dein Zimmer."

Widerstrebend nickte Adeline. Er schob sich an ihr vorbei, wobei sein Arm kurz ihre nackten Schultern berührte. Elias wartete nicht auf sie. Er ging los, wie es ihm gefiel.

Elias ging schneller als sonst. Er war nicht glücklich über ihren Kommentar, obwohl er sich dumm vorkam, deshalb verärgert zu sein. Dies hätte schon vor zwei Jahren, als sie volljährig wurde, ihr Zuhause sein sollen.

"Warte auf mich ..." Adeline beschleunigte ihre Schritte. Sie war fast am Joggen, um zu ihm aufzuschließen.

Sie zuckte vor Schmerz zusammen. Ihre High Heels drückten auf ihre Füße. Sie hielt einen Moment inne und überlegte, ob es möglich sei, die Schuhe auszuziehen. All die Jahre, die sie in unbequemen Schuhen trainiert worden war, brachten nichts. Es tat immer noch weh.

Tante Eleanor hätte einen Anfall bekommen, hätte sie gesehen, wie Adeline ihre Absätze vor einem Mann ablegte.

Adeline unterdrückte eine Klage und stapfte weiter vorwärts. Vielleicht war es der Schmerz, der sie blendete, aber er hatte ein bisschen verlangsamt. Eher hielt er alle paar Sekunden an, um aus dem Fenster zu blicken, wahrscheinlich um sicherzustellen, dass seine Wachen aufmerksam waren.

"Meine Großmutter kann schneller gehen als du", murmelte Elias.

"Deine Großmutter?" wiederholte Adeline.Adeline fragte sich, was für eine Art Frau seine Großmutter gewesen sein musste. Sie selbst hatte ihre Großmutter nie kennengelernt. Anscheinend wollte diese nichts mit der Familie ihrer Mutter zu tun haben. Aus diesem Grund hatten sich weder die ehemalige Matriarchin noch der Patriarch der Rose-Familie jemals blicken lassen.

"Du wirst sie nicht mögen, sie ist gnadenlos", murmelte Elias.

Bevor sie weiterfragen konnte, wandte er sich unvermittelt zu ihr um. "Dein Zimmer."

Adeline blinzelte. Einmal. Dann noch einmal. "Wie bitte?"

Sie warf einen Blick über die Schulter. Sein Zimmer war nur eine Tür weiter. Er konnte ihr Zimmer betreten, wie es ihm gefiel. Aber wenn er auch nur ein wenig Respekt vor ihr hatte, würde er es nicht tun. Doch sie kannte seine Art. Wahrscheinlich wartete er bereits in ihrem Zimmer auf sie.

Bevor sie etwas sagen konnte, drückte Elias den Türknauf herunter. Im Zwielicht der Nacht erschienen die weißen Türen wunderschön. Zögerlich trat sie ein und ihre Lippen öffneten sich ungläubig. Dieses Zimmer war größer als ihr Zimmer auf dem riesigen Anwesen der Roses!

"Zwei Zimmer dienen als Ankleidezimmer und dazu gehört ein angrenzendes Bad", erklärte er ihr.

Elias machte eine einladende Geste in Richtung des Zimmers. Argwöhnisch betrachtete Adeline ihn.

"Was?" fragte er. "Fürchtest du, dass ich dich einsperren könnte?"

Sie nickte.

"Feines Gespür", sagte Elias anerkennend.

Er ging zuerst hinein und schaltete das Licht ein. Er musste blinzeln – die plötzliche Helligkeit blendete ihn. Sie aber störte es nicht. Mit einem gewissen Zögern betrat Adeline das Zimmer und überblickte es. Ihre Aufmerksamkeit galt sofort den großen Fenstern nahe ihrem Bett.

"Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du mich wieder von dort aus beobachten wirst", deutete sie auf die großen Fenster, deren Vorhänge zurückgezogen waren und kein Balkon zu sehen war.

"Ich werde nicht", erklärte er mit einem amüsierten Unterton. "Ich werde stattdessen durch das Loch in der Wand schauen."

Adeline wirbelte herum und starrte ihn fassungslos an. Ihr Herz schlug schneller. Sie verabscheute den Gedanken an Überwachung. Wenn sie sich nicht einmal in ihrem eigenen Zimmer sicher fühlen konnte, wie sollte sie dann Schlaf finden?

"Das ist ein Scherz, oder?" murmelte Adeline.

Elias ergriff ihre Schultern und zog sie dicht zu sich. Er grinste zu ihr herunter, seine scharfen Fangzähne funkelten im Licht.

"Nein."

"Elias…", begann sie zögerlich.

"Siehst du, dort ist ein Loch", deutete Elias auf das Fenster.

"Das ist doch kein Loch…"

"Ich weiß, was ein Loch ist, Liebes."

Adeline hatte das Gefühl, er meinte etwas anderes.

"Ist ein Fenster nicht wie ein Loch in der Wand?" fügte er hinzu.

Adeline unterdrückte einen Seufzer. Er spielte wieder einmal mit ihr. War es, weil ihre Reaktionen ihm Spaß machten, oder war er einfach nur sadistisch veranlagt? Sie vermutete letzteres.

Es gab zu viele unheilvolle Gerüchte über Elias, als dass sie glauben konnte, seine Neckereien seien bloß zum Spaß. Sie hatte die erschreckenden Geschichten gehört, die den Kindern zugeflüstert wurden, damit sie sich gut benahmen.

"W-warum beobachtest du mich so gern von meinem Fenster aus?"

"Jemand sollte darauf achten, dass du nicht im Schlaf verschiedest."

"A-aber ich bin doch jung."

Elias hatte nie vor, sie beim Schlafen zu beobachten. Die letzte Nacht war nur, um sicherzustellen, dass sie früh nach Hause kam und ihr niemand unklugerweise folgte. Selbst wenn der nutzlose Leibwächter da gewesen wäre, hätte dieser nicht schnell genug reagieren können.

"Man kann nie sicher sein", murmelte Elias leise. Er streckte die Hand aus und kniff sie sanft in die Wange, was einen Aufschrei von ihr entlockte.

Adeline berührte reflexhaft die Stelle, doch ihre Hand strich dabei über seine Fingerknöchel. Seine Berührung war eiskalt, seltsamerweise aber auch tröstlich, denn sie dämpfte die Hitze ihres Körpers.

"Die Mägde werden gleich kommen, um dich auf das Schlafengehen vorzubereiten."

Adeline nickte langsam.

"Ich komme später vorbei, um nach dir zu sehen und dich zuzudecken."

Adelines Kopf schnellte schneller hoch, als er blinzeln konnte. Sein spöttisches Grinsen wurde noch breiter und erreichte seine Augen. Sie hatte das Gefühl, er wollte seine guten Seiten nicht zeigen. Wenn er schon so gruselig sein wollte, dann sollte er auch so aussehen. Stattdessen sah er aus wie ein finsterer Prinz in schillernder Rüstung, bereit die Prinzessin zu entführen statt sie aus dem Turm zu werfen.

"Eines Tages wird es dich das Herz kosten", hauchte sie.

Elias brummte nur als Antwort. Er ließ seine Hände sinken und richtete ihr Haar wieder her. Die Physik ärgerte ihn. Gerade erst hatte er es gerichtet, und schon hatten ihre schnellen Bewegungen die Strähnen über ihre Schultern geweht. So sehr er den Anblick ihres Nackens auch genoss, ihre Gesundheit war ihm wichtiger.

Sie war ein Mensch. Menschen waren verletzlich. Ein einziger Papierschnitt konnte sie bluten lassen.

"Eure Majestät", begrüßten ihn zwei Stimmen. Stoisch und höflich verbeugten sie sich vor ihrem Souverän.

Elias nickte knapp. Er richtete ihre Halskette so, dass sie perfekt zwischen den Schlüsselbeinen saß. Ein Lächeln ging über sein Gesicht, als sie einen Blick auf die Halskette warf. Ihre Lippen formten ein seltenes Lächeln, das ihren sonst so besonnen Blick aufhellte.

"Sehn dich nach mir nicht zu sehr", kicherte er.

"Als ob ich das tun würde..."

Elias lachte. Sicherlich würde sie das nicht. Er drehte sich um und ging hinaus, im Wissen, dass sie in guten Händen war. Sobald er die Tür hinter sich schloss, verschwand das Lächeln von seinem Gesicht. Heimlich schlich er durch den Flur. Er musste eine Frau aufsuchen. Sie verlor schon wieder die Kontrolle.