Ein Vogelkäfig

Wenn es eine Person gab, der Adeline vertrauen konnte, dann war es Lydia Claymore. Helläugig und voller Energie, die ihr kleiner Körper kaum zu fassen schien, war Lydia so lange in Adelines Leben, wie sie sich zurück erinnern konnte.

"Als ich von deiner garstigen Tante hörte, dass ein Heiratsantrag an dich gerichtet wurde, musste ich einfach sofort zu dir kommen, Addie!" platzte es aus Lydia heraus. Sie ergriff Adelines Hände und zog sie nahe an sich heran.

"Wenn du entführt worden bist, blinzle zweimal", hauchte sie mit leiser, ernster Stimme.

Adeline machte eine kleine Pause, bevor sie etwas lachte. Lydia wusste stets, wie sie ihre Stimmung heben konnte. Sie löste ihre Hände aus Lydias Griff, doch diese erfasste daraufhin ihre Unterarme.

"Auch wenn ich nicht schießen kann, um mein Leben zu retten, würde ich mein Leben für dich aufs Spiel setzen, Addie," fügte Lydia atemlos vom vielen Reden hinzu. Sie klammerte sich an Adeline, denn das junge Mädchen bedeutete ihr so viel.

Die Eltern von Lydia Claymore würden einen Aufruhr veranstalten, wenn sie herausfänden, dass sie sich aus ihrer riesigen Wohnung geschlichen hatte, um Zeit mit Adeline zu verbringen. Als Tochter der wohlhabenden Familie Claymore war sie dazu erzogen worden, zurückhaltend und gefügig zu sein. Ihr Vater, der Duke Claymore, hatte darauf immer großen Wert gelegt, doch Lydia war nie so gewesen.

"Liddy", lächelte Adeline sanft. "Mir geht es gut."

Lydia weigerte sich, das zu glauben. Sie zog ihre geliebte Freundin ins Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Mit einem leichten Schmollmund zupfte sie an Adelines Arm.

"Außerdem", neckte Adeline behutsam, "erinnere ich mich noch an das eine Mal, als du eine Waffe in der Hand hattest und sie plötzlich nicht mehr funktionierte."

Lydia stieß einen Seufzer bei der unliebsamen Erinnerung aus. Sie hatte aus Neugier eine der Pistolen ihres Vaters ausprobiert, und irgendwie hatte das verdammte Ding aufgehört zu funktionieren!

"Das stimmt nicht—"

"Du hast den Abzug verklemmt, einfach indem du gezogen hast", neckte Adeline.

"Das war ein einziges Mal!"

"Zweimal", korrigierte Adeline.

"Zweimal!" rief Lydia, die Verzweiflung in ihrer Stimme, und streckte zwei Finger in die Höhe.

"Und sie gehörten zu den unbezahlbaren Sammlerstücken deines Vaters."

Lydia murrte. Sie erinnerte sich an die endlose Standpauke, die ihr Vater ihr gehalten hatte, nachdem sie sich in seinen Waffenschrank geschlichen hatte.

"Papa besitzt eines der größten Rüstungsunternehmen der Welt! Zwei Waffen dürften doch wohl kaum schaden...", murmelte Lydia.

"Zwei Waffen von den zehn, die du ruiniert hast—"

"Das ist nicht meine Schuld!" rief Lydia aus. "Die Waffe ist schuld, weil immer dann Probleme auftreten, wenn ich versuche sie zu benutzen."

Adeline lachte leise, ihre Augen funkelten vor Freude, doch sie verbarg ihr Grinsen hinter einer Hand – sehr zu Lydias Missfallen.

"Schon gut, schon gut", tadelte sie wie eine ältere Schwester die langen Tiraden ihrer jüngeren Geschwister.

Adeline schob ihre Ärmel hoch bis zu den Fingern und begann vorsichtig, den Schmutz von Lydias Gesicht zu wischen. "Du und deine Theatralik", seufzte sie laut.

Lydia blieb still, wie ein treues Haustier, während Adeline ihr Gesicht säuberte. Sie hatte gedacht, es wäre eine großartige Zeichnung, die ihrer Addie ein Lächeln entlocken würde. Und das tat sie auch. Ein Hauch eines Lächelns zierte Adelines sanfte, pfingstrosenfarbene Lippen.

"Addie", rief Lydia fröhlich aus. "Du würdest mir doch alles erzählen, oder?"

Adeline neigte ihren Kopf. Sie hatte gerade den Schmutz von Lydias Gesicht entfernt, als ihr die unerwartete Frage entgegengeschleudert wurde.

"Natürlich, Liddy", antwortete Adeline wie aus der Pistole geschossen.

Adeline war zusammen mit Lydia aufgewachsen. Ihre Väter waren gute Freunde gewesen, manche sagten sogar, in ihrer Jugend, als sie noch die Schule besuchten, waren sie Partner im Unfug. Natürlich waren Adelines Kindheitserinnerungen mit Lydia verwoben.

Ihr Lächeln schwand ein wenig. Sie erinnerte sich daran, wie Duke Claymore auf der Beerdigung ihres Vaters am meisten geweint hatte. Er behauptete, es wäre nur der Regen gewesen, doch sie hatte sein ersticktes Schluchzen gehört und gesehen, wie sein großer Körper bebte.

"Warum hast du dann deine heimliche Affäre mit Seiner Majestät verheimlicht, Addy?" fuhr Lydia fort. Sie war bestürzt, als sie die Nachricht von Tante Eleanor hörte."Was ist aus dem Plan geworden, nie zu heiraten und uns einfach in einem netten Häuschen im Ausland niederzulassen, um als alte Jungfern unser Leben zu verbringen?" beschwerte sich Lydia. In ihrer Kindheit hatten sie einen albernen Schwur geleistet.

Falls sie mit dreißig noch nicht verheiratet wären, würden sie einfach zusammen abhauen und vom Land leben.

Das waren freilich noch die Zeiten, als Adeline eine Prinzessin in einem riesigen Anwesen war, über ihrem Haupt ein Schloss trug. Nun aber war ihre liebste Adeline in der giftigen Umklammerung der Familie Marden gefangen.

Die Mardens waren Falken, wie ihr Wappentier andeutete. Für Lydia waren sie schlimmer als aasfressende Geier. Welche Schwiegerfamilie war nur so unverfroren, einer jungen Erbin nach ihrem Vermögen zu trachten?!

"Ich hatte keine Wahl, Liddy", erwiderte Adeline.

Sie führte Lydia zu den weißen Sofas. Lydias Augen leuchteten vor Freude, als sie sah, wie behaglich dieser Ort war. Jetzt, da sie das Ganze besser betrachten konnte, war es, als wäre sie in ein europäisches Gemälde eingetreten. Alles war in Weiß, Gold und Reichtum gehalten.

Eine schöne Vase mit frisch geschnittenen Blumen stand da und große Fenster boten einen Blick auf einen friedlichen Garten. Die Wände waren mit zarten blauen Mustern bemalt, die von einem ruhig dahinfließenden Fluss zu einer üppigen Wiese mit zarten, gelben Blumen übergingen.

Adeline hatte sich sofort in das Wohnzimmer verliebt, obwohl sie nicht wusste, für wen es bestimmt war.

"Es fühlt sich an, als würdest du einen Vogelkäfig gegen eine Löwengrube eintauschen", murmelte Lydia.

Lydia wandte sich zu Adeline und ignorierte das Metallblech mit den heruntergefallenen Gebäckstücken am Boden. Sie war ungeschickt und hatte es mit ihren Knien umgestoßen, als sie Schritte näherkommen hörte.

"Seine Majestät ist sehr gütig", stotterte Adeline.

"Und ich kann Schweine fliegen lassen!"

Adeline lächelte leise vor sich hin. "Weißt du, ich habe in der Biografie einer inspirierenden Frau gelesen, die ihren Mann neckte, indem sie sagte, Schweine könnten fliegen, wenn man sie hoch in die Luft wirft."

Lydia schnaubte daraufhin. "Ich wollte gerade sagen, dass das meine gestohlene Technik ist."

Lydia wollte auch eines der Geräte ihres Vaters erwähnen, mit dem man etwas befiedern und die Schwerkraft überwinden konnte, indem man das Schwein anhob.

Nach dem Artensieg hatte sich die Technologie über die menschliche Natur hinausentwickelt. Nun gab es kleine Gerätschaften, die dazu in der Lage waren, die Physik zu manipulieren und Magie gleichkamen. Leider benötigten diese Geräte einen "Kern", der aus einem seltenen und kostspieligen Material gefertigt war.

An der Spitze der Forschung standen die Vampire, die angeblich diese Technologie vor dem Krieg der Arten entwickelt hatten. Nachdem die Vampire in die Menschenwelt eingedrungen waren und sich an die Spitze der Nahrungskette gesetzt hatten, brachten sie Fortschritt mit sich, der seinesgleichen suchte. Es war wahrlich ein Schauspiel.

"Technik hin oder her," sagte Adeline langsam, "Seine Majestät behandelt mich gut... abgesehen von seinen häufigen Neckereien."

Adeline verschwieg, um welche Art von Hänseleien es sich handelte.

"Er hat mir nichts angetan", fügte sie hinzu.

"Du hast zu niedrige Ansprüche, Addy", fuhr Lydia fort. "Meine geliebte Freundin, es gehört zum anständigen Benehmen, dass ein Mann einer Frau nicht wehtut, und umgekehrt!"

Adeline lächelte zu Boden. Wenn es nicht viele freundliche Menschen in ihrem Leben gab, musste sie Mittel und Wege finden, sie in einem guten Licht darzustellen. Selbst wenn das bedeutete, sich für sie zu entschuldigen.

"Eines Tages, da lege ich meine Hand dafür ins Feuer, wirst du übers Ohr gehauen, und ich werde dich irgendwo in der Pampa retten müssen", schnaubte Lydia. "Aber keine Sorge, ich komme mit bewaffneten Männern und allem Drum und Dran!"

Adelines Lächeln wurde noch breiter. Sie konnte sich immer darauf verlassen, dass Lydia den Tag aufheiterte.

"Das gilt selbst für diesen unverschämt gutaussehenden König von Wraith!", fügte Lydia hinzu. "Mein Vater mag zwar Waffen für das Imperium herstellen, aber ich werde den König umbringen, falls er sich dir gegenüber ungebührlich verhält!"

Adeline nickte langsam mit dem Kopf. Sie zweifelte nicht daran, dass Lydia es ernst meinte. Manchmal beneidete sie ihre schöne Freundin. Lydia hatte den Mut, den Adeline einst besaß. Lydia konnte sich so rüpelhaft verhalten, wie sie wollte, so laut sprechen, wie sie wollte, und tun und lassen, was sie begehrte.

Lydia war nicht durch Ketten zurückgehalten. Adeline wusste jedoch, dass Lydia einmal nicht so selbstbewusst war, wie sie heute war. Sie erinnerte sich an die Tage, als Lydias Gesicht ausdruckslos und ihre Augen leblos waren.

"Toll, noch jemand, der es auf mein Leben abgesehen hat."

Adeline schreckte auf. Sie hatte sich so von der lebhaften Lydia ablenken lassen, dass sie nicht bemerkt hatte, dass sich die Türen geöffnet hatten.

Elias stand an der Tür, mit seinem üblichen, sardonischen Grinsen. Als sich ihre Blicke trafen, zwinkerte er ihr zu.