Die Träume zweier Menschen

Der alte Meister Lu entfaltete langsam das Gemälde. Das Erste, was ihm ins Auge fiel, war Dunkelheit. In dem schwach beleuchteten Raum malte eine abgehärmte Gestalt. Sie saß vor ihrer Leinwand, ihre Hand, die den Pinsel hielt, erschien verwelkt, ein starker Kontrast zur jugendlichen Silhouette einer Person in ihren Zwanzigern.

Die Leinwand zeigte ein Mädchen in ihren Teenagerjahren, aber nur ihr Gesicht war gezeichnet. Ihre Augen waren außergewöhnlich groß, erfüllt von einem Gefühl der Weltmüdigkeit und Reue.

Fu Hanchuans Blick war auf den Rücken der Figur im Gemälde fixiert, Unglauben füllte seine Augen. Die Figur im Hintergrund seiner Träume hatte das gleiche Gesicht wie Qin Sheng. Es war abgenutzt, ohne die Vitalität, die sie jetzt besaß.

Fu Hanchuan wandte seine Augen zu Qin Sheng, aber ihr Ausdruck blieb unverändert, was seine Verwirrung vertiefte. Wie konnte Sheng Sheng ein solches Stück gemalt haben?

Lu Ming setzte sich schnell wieder auf seinen Platz und rieb sich die Arme. "Es ist zu traurig."

Auch der alte Meister Lu war in das Gemälde versunken und analysierte es aus der Perspektive eines Künstlers.

Mehrere Minuten vergingen, bevor er endlich sprach: "Sheng Sheng, dein Können ist wirklich beeindruckend. Selbst ein alter Mann wie ich fühlt sich unterlegen."

"Aber", fuhr er fort und äußerte seine Gedanken, "ist das nicht ein bisschen zu schwer und bedrückend? Vielleicht könnte ein Fenster hier, das einen Sonnenstrahl hereinlässt, ihm ein Gefühl der Hoffnung verleihen."

Das gesamte Gemälde war in Dunkelheit gehüllt, selbst die Stelle, an der das Mädchen saß, war ziemlich düster.

Als sie dies hörte, nickte Qin Sheng, offensichtliche Überraschung in ihren Augen. "Danke, Großvater Lu. Ich habe tagelang darüber nachgedacht, ohne eine Antwort zu finden. Dein Vorschlag hat mir Klarheit gegeben."

Der alte Meister Lu lachte: "Sheng Sheng, du hast großes Talent zum Malen. Komm oft zu mir. Dieser alte Mann hat vielleicht nicht viel zu bieten, aber wenn es ums Malen geht, wage ich zu behaupten, dass ich besser bin als einige der renommierten Künstler im Land. Der Titel 'Meister' wurde mir nicht umsonst verliehen."

"Solange Großvater Lu nichts dagegen hat, dass ich lästig bin", antwortete Qin Sheng, ihre Augen zu einem fröhlichen Lächeln zusammengekniffen.

Der alte Meister Lu lachte herzlich: "Ich würde dich nie als lästig empfinden."

Lu Ming, der daneben stand, konnte nicht anders als zu seufzen. Sein Großvater bevorzugte wirklich Mädchen. Für ihn war sein eigener Enkel so unbedeutend wie ein Grashalm, während Qin Sheng ein Schatz war.

Qin Sheng blieb bis zum Abend bei dem alten Meister Lu, bevor sie nach Hause zurückkehrte.

Fu Hanchuan bot an, Qin Sheng zurück zur Familie Qin zu fahren, und Lu Ming wollte auch ins Auto steigen.

Fu Hanchuan sagte ausdruckslos zu ihm: "Lass den Fahrer dich nach Hause bringen."

Lu Ming hatte einen Platz zum Übernachten außerhalb und würde gelegentlich dort übernachten.

Verwirrt fragte Lu Ming: "Bruder, liegt das nicht auf dem Weg?"

Seine Antwort war das Geräusch der zuschlagenden Autotür. Lu Ming blieb draußen.

Lu Ming: "..."

In Ordnung, er verstand endlich. Sein Bruder wollte offensichtlich nicht, dass er das fünfte Rad am Wagen spielte.

Lu Ming rieb sich die Nase und bat den Fahrer, ihn nach Hause zu bringen.

Im Auto war es sehr ruhig.

Während sie an der ersten Ampel warteten, bewegte Fu Hanchuan seine Lippen und äußerte die Frage, die ihn beunruhigt hatte: "Sheng Sheng, woher kam die Inspiration für dieses Gemälde?"

Qin Sheng erwähnte ihre Wiedergeburt nicht. "Ich habe davon geträumt. Ich hatte einen langen Traum, in dem es schien, als hätte ich alles erlebt, was in einem früheren Leben passiert ist."

In der Tat war Qin Sheng wiedergeboren worden. Für sie war das vorherige Leben nur ein Traum, ein sehr lebendiger.

Fu Hanchuans Griff um das Lenkrad verstärkte sich. "Könntest du mir von deinem Traum erzählen?"

Die Ampel wurde grün, und Fu Hanchuan fuhr wieder los.

Es dauerte eine ganze Weile, bevor Fu Hanchuan Qin Shengs Antwort hörte, ein leises "In Ordnung."

Qin Sheng berichtete kurz von ihren Erfahrungen aus dem vorherigen Leben. Ihre Worte waren geradlinig, passten aber fast genau zu dem, wovon er geträumt hatte.

Fu Hanchuan spürte einen tiefen Schmerz in seinem Herzen, als würden Ameisen daran nagen.

Er verstummte.

Er und sie hatten fast den gleichen Traum gehabt. Nur war sein Traum noch detaillierter und spezifischer als das, was Qin Sheng beschrieben hatte.

"Sheng Sheng, ob es nun real ist oder nicht, ich werde dich für den Rest meines Lebens beschützen." Nachdem Qin Sheng aus dem Auto gestiegen war, sprach Fu Hanchuan plötzlich leise. Allerdings hörte Qin Sheng diese Worte nicht.

Er beobachtete, wie sie das Tor zum Haus der Familie Qin betrat, bevor er schließlich wegfuhr.

*(Ende des Kapitels)*