Seit einer Weile bin ich jetzt in diesem neuen Leben – wenn man es so nennen kann. Diese Menschen, die sich als meine Eltern ausgeben, scheinen tatsächlich überzeugt davon, dass ich ihr Kind bin. Mein Name ist Lucian Kade, aber sie nennen mich Luck. Ein Name, der mir so fremd ist wie ihr Zuhause, wie ihre Gesichter, wie alles an diesem Ort.
Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab, das Licht der kleinen Nachttischlampe wirft lange Schatten an die Wände. Die Gedanken in meinem Kopf drehen sich im Kreis, wie ein Wirbelsturm, der keinen Ausgang findet.
„Was geht hier nur vor sich?" Meine Stimme ist ein Flüstern, kaum mehr als ein Hauch. „Bin ich tot? Ist das hier die Hölle?"
Ich bleibe vor dem Spiegel stehen, der an der Schranktür hängt, und betrachte mein Spiegelbild. Das Gesicht, das mir entgegenstarrt, ist nicht meins. Die Haut ist blass, fast makellos. Mein Haar ist schneeweiß, strähnig, aber irgendwie elegant. Die Augen – tiefschwarz, leer und bodenlos – sehen aus, als könnten sie Geheimnisse verschlucken.
Ich berühre mein Gesicht, meine Wangen, meinen Hals. „Und dieser Körper… Das ist nicht meiner", murmele ich. Ein schiefes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. „Zumindest bin ich nicht hässlich."
Mein Blick schweift zum Fenster. Der Vollmond hängt groß und leuchtend am Himmel, sein Licht durchbricht die Dunkelheit der Nacht. Draußen ist es still. Zu still. Die Art von Stille, die einen unruhig macht, die sich in deinen Gedanken einnistet und jede noch so kleine Bewegung wie ein Verbrechen wirken lässt.
Verloren in meinem Kopf, verlasse ich schließlich mein Zimmer. Die Tür knarrt leise, und der Flur ist in Dunkelheit gehüllt, nur das schwache Licht aus der Küche schimmert am Ende des Gangs. Ich höre sie, diese Menschen, die sich meine Eltern nennen. Ihre Stimmen klingen gedämpft, aber klar genug, um sie zu verstehen.
„Auch mal wach, Luck?" Die Stimme der Frau, die behauptet, meine Mutter zu sein, hallt durch die Stille. Warm, freundlich – fast zu perfekt, wie ein Schauspiel.
Ich betrete die Küche. Sie sitzt am Tisch, eine Tasse Tee vor sich. Der Mann – mein „Vater" – lehnt sich gegen die Küchenzeile, einen Becher Kaffee in der Hand. Beide sehen mich an, und für einen Moment spüre ich, wie eine seltsame Schwere auf meinen Schultern lastet.
„Ja", sage ich schließlich, meine Stimme ruhig, kontrolliert. Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen, das sich so falsch anfühlt, dass ich am liebsten das Gesicht abwischen würde. „Ich konnte nicht mehr schlafen."
„Albträume?" fragt sie, ihre Augen voller Sorge. Es sieht so echt aus. Ihre Fürsorge, ihre Liebe – als ob sie wirklich glaubt, dass ich ihr Kind bin.
„Ja, irgendwas in der Art." Ich setze mich an den Tisch und verschränke die Hände vor mir. Meine Finger zittern leicht, aber ich lasse es mir nicht anmerken. „Es war… seltsam. Nur ein Traum, denke ich."
„Du redest in letzter Zeit oft im Schlaf." Sein Ton ist beiläufig, aber ich spüre, wie seine Augen mich mustern, als würde er nach etwas suchen, das er nicht versteht. „Du musst uns sagen, wenn etwas nicht stimmt, Luck. Wir wollen nur, dass es dir gut geht."
Ich nicke und zwinge mich, sie anzusehen. „Danke. Das weiß ich."
Die Frau legt ihre Hand auf meine. Ihre Berührung ist warm, echt. Es bringt mich fast dazu, zurückzuzucken, aber ich bleibe still. „Wir machen uns nur Sorgen, Schatz. Du weißt, dass du mit uns über alles reden kannst."
„Ich weiß." Ich nicke erneut und sehe auf ihre Hand. Sie fühlt sich so echt an, aber mein Inneres rebelliert bei jedem Wort, bei jedem Blick. Sie sind nicht meine Eltern. Das hier ist nicht mein Zuhause. Und doch sitze ich hier, spiele dieses Spiel, als wäre alles in Ordnung.
„Ich… ich schätze, ich gehe wieder ins Bett." Ich stehe auf und lasse ihre Hand los. „Tut mir leid, dass ich euch gestört habe."
„Du störst nie, Liebling", sagt sie und lächelt. „Schlaf gut."
„Danke", murmle ich und verlasse die Küche.
Die Tür zu meinem Zimmer schließt sich hinter mir, und ich atme tief ein, dann aus. Mein Herz rast, als hätte ich gerade eine gefährliche Mission überlebt.
„Sie glauben es wirklich", flüstere ich in die Dunkelheit. „Sie glauben, ich bin ihr Kind. Luck."
Ich sinke auf das Bett, mein Kopf schwer von den Gedanken, die sich wie ein dicker Nebel über meinen Verstand legen. Wer sind sie? Warum bin ich hier? Und was ist das für ein Spiel, das jemand mit mir spielt?
Ich liege auf dem Bett, die Decke über mir wirkt so weit entfernt, als wäre sie ein endloser Nachthimmel. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in Watte gepackt, schwer und träge. Die Gedanken rasen, stoßen immer wieder gegen dieselben Fragen, die mich in den Wahnsinn treiben könnten.
Wo bin ich wirklich?
Ich starre an die Decke, versuche, die Worte in meinem Kopf zu ordnen. Wenn das hier wirklich mein neues Leben sein soll… was ist es dann? Ist das eine zweite Chance? Ein Neuanfang? Oder einfach nur eine grausame Täuschung? Und warum fühlt sich alles so falsch an?
„Bin ich… wiedergeboren?" Der Gedanke entweicht meinen Lippen, kaum mehr als ein leises Flüstern, doch er hallt in meinem Kopf wider. Es ergibt keinen Sinn. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist –
Mein Herz zieht sich zusammen, als ob jemand eine eiskalte Faust darum legt. Das Licht. Das Kreischen der Bremsen. Der Aufprall. Die Stille.
Ich schlucke schwer. „Wiedergeboren… aber wenn ja, wo bin ich dann? Ist das hier die Vergangenheit?" Ich denke an die Umgebung, die Kleidung dieser Menschen, die Technologie. Es wirkt alles seltsam vertraut und doch anders, als hätte jemand meine Welt nachgebaut, aber ohne die Details zu kennen.
„Oder…" Mein Herz schlägt schneller. „Bin ich in einer anderen Welt? Wie in diesen Isekai-Anime?"
Der Gedanke lässt mich aufsetzen. Ich sehe mich im Zimmer um, aber nichts wirkt übernatürlich. Keine magischen Schwerter, keine fliegenden Bücher oder schwebenden Lichter. Nur ein normales Zimmer. Normale Möbel. Normale Menschen, die vorgeben, meine Eltern zu sein. Aber irgendetwas daran fühlt sich unecht an, wie ein Bild, das zu perfekt gemalt wurde.
„Wenn das hier wirklich eine andere Welt ist… warum fühle ich mich dann so… leer?"
Ich schüttle den Kopf und lasse mich zurück aufs Bett fallen. Meine Gedanken springen von einer Möglichkeit zur nächsten, ohne dass ich eine Antwort finde. Es ist zum Verrücktwerden.
Aber wenn es eine andere Welt ist… warum wurde ich hergebracht? Wer oder was hat das getan? Und warum diese Familie? Warum diese Lüge?
Ich schließe die Augen, doch die Gedanken lassen mich nicht los. Was, wenn das hier tatsächlich ein Isekai-Szenario ist? In den Geschichten, die ich kannte, gab es immer einen Grund. Einen Zweck. Die Protagonisten wurden gerufen, um Helden zu sein, um eine Welt zu retten, um einen Sinn in ihrem neuen Leben zu finden. Aber hier?
„Was ist mein Zweck?" murmele ich in die Dunkelheit. „Oder… bin ich einfach nur eine Spielfigur?"
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und ich öffne die Augen wieder. Der Gedanke, dass jemand mich absichtlich hierhergebracht hat, mich aus meinem alten Leben gerissen hat, ist verstörend. Doch es fühlt sich… richtig an. Als ob die Antworten irgendwo dort draußen auf mich warten würden.
Ich setze mich erneut auf und blicke zum Fenster. Der Vollmond leuchtet heller als zuvor, sein Licht strahlt auf mein Gesicht.
„Wenn ich hier bin, dann gibt es auch Antworten." Ich fasse den Entschluss. Ich muss herausfinden, was das hier ist – eine andere Welt, die Vergangenheit oder etwas, das ich mir nicht einmal vorstellen kann.
„Und wenn das jemandem sein Spiel ist… dann finde ich den Ersteller."