Ich habe schon einige peinliche Momente in meinem Leben erlebt. Aber die Szene, die sich gerade abspielt, toppt sie alle. Mitternacht.
Der Moment, in dem Märchen ihren Höhepunkt erreichen. Der Moment, in dem magische Verwandlungen enden, Kutschen wieder zu Kürbissen werden und Prinzessinnen panisch davonlaufen. Nun, ich bin definitiv keine Prinzessin. Aber ich laufe trotzdem. Und nicht besonders elegant, falls das irgendjemanden interessiert. Ich stolpere über den Ballsaal, mein Kleid verheddert sich in meinen Beinen, und meine Chucks quietschen auf dem perfekt polierten Marmorboden. Im Hintergrund höre ich noch die Live-Musik, das Gemurmel der Gäste – und eine Stimme, die meinen Namen ruft. „Ella! Warte!" Ich ignoriere es. Ich habe keine Zeit für königliche Dramen. Mein Herz schlägt wie verrückt, mein Kopf ist ein einziges Chaos. Ich muss hier raus. Jetzt. Wie konnte das nur passieren? Vor fünf Minuten war noch alles in Ordnung – na ja, so in Ordnung, wie es eben sein kann, wenn man als Chaosqueen auf einem Ball voller geschniegelter Adliger festsitzt. Ich hatte mir gerade eine zweite Portion Dessert geholt und wollte mich diskret in eine dunkle Ecke zurückziehen, als plötzlich – BOOM – alles eskalierte. Zunächst einmal hatten meine Stiefschwestern es nicht länger ausgehalten, dass ich die Aufmerksamkeit auf mich zog. Also beschlossen sie, mich öffentlich zu „outen". „Ach übrigens", hatte Livia mit ihrem süßlichsten Lächeln verkündet, „wusstet ihr schon, dass unsere kleine Schwester eigentlich nur hier ist, weil sie von unserer Stiefmutter gezwungen wurde?" „Ja, sie hält ja eigentlich nichts von diesem ganzen Prinzessinnen-Quatsch", fügte Sophia mit gespielt überraschter Miene hinzu. „Aber irgendwie scheint sie doch ziemlich Gefallen daran zu finden… oder?" Und dann – als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre – folgte der wahre Höhepunkt des Abends: Adrian. Der verdammte Prinz, der sich scheinbar einen Spaß daraus macht, mein Leben komplizierter zu gestalten, stand plötzlich direkt vor mir. Mit diesem Blick, als würde er mich tatsächlich sehen, und nicht nur das Mädchen in den Chucks, das nicht hierhergehört.
Und dann sagte er es. Laut genug, dass alle es hören konnten. „Ella… bleib doch noch ein bisschen." Ich erstarrte.
Es war nicht nur eine Bitte. Es war eine Einladung. Eine öffentliche. Als ob ich eine Wahl hätte. Als ob ich nicht in einem Raum voller Menschen stehen würde, die nur darauf warteten, dass ich mich blamiere. Und genau da wusste ich: Ich muss hier weg. Also rannte ich. Und hier bin ich jetzt. Mitternacht. Auf der Flucht vor einem Märchen, das nicht meins ist. Ich stürme durch die riesige Eingangshalle, vorbei an überraschten Dienern und verdutzten Gästen. Die großen Flügeltüren sind zum Greifen nah – noch ein paar Meter, dann bin ich draußen. Dann – natürlich, weil mein Leben eine einzige Slapstick-Komödie ist – passiert es. Ich stolpere. Über nichts. Über Luft. Über mein eigenes verdammtes Kleid. Und mein rechter Schuh – mein geliebter, treuer, abgetragener Chuck Taylor – verabschiedet sich von meinem Fuß und segelt in einem eleganten Bogen durch die Luft. Mitten in die Hände von Adrian. Perfekt. Ich liege flach auf dem Boden, mein Kleid ist irgendwo hinter mir verrutscht, und ich bin mir zu 99 % sicher, dass mir die halbe Stadt morgen in einer Meme-Compilation begegnen wird. Adrian betrachtet meinen Schuh, dann mich. Sein Blick ist eine Mischung aus Belustigung und echter, unverfälschter Neugier. „Ich glaube, du hast etwas verloren", sagt er. Ich stöhne. „Lass mich einfach sterben." Er lacht. „Oder ich helfe dir auf?" Er reicht mir eine Hand. Ich blicke darauf, dann auf sein Gesicht.
Und das ist der Moment, in dem ich es wirklich realisiere. Ich könnte bleiben.
Ich könnte ihm meine Hand geben, mich von ihm aufhelfen lassen, vielleicht sogar zurück in diesen verdammten Ballsaal gehen. Aber das bin nicht ich. Ich bin kein Märchen.
Ich bin keine Prinzessin. Ich bin Ella, die Chaosqueen, die sich nicht retten lässt. Also tue ich das Einzige, was mir in den Sinn kommt. Ich springe auf, reiße ihm meinen Schuh aus der Hand und renne weiter. Draußen ist es kalt, aber die frische Luft tut gut. Mein Herz hämmert in meiner Brust, meine Füße schlagen auf das Kopfsteinpflaster, als ich durch den dunklen Hof eile. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich weiß nur, dass ich weg muss. Mitternacht. Das Märchen ist vorbei. Und ich bin verdammt noch mal nicht Cinderella.