Es gibt viele Möglichkeiten, einen Tag zu beginnen. Manche Menschen stehen auf, machen Yoga und trinken frisch gepressten Orangensaft. Andere kuscheln sich noch einmal in die Decke und drücken die Snooze-Taste mindestens fünfmal. Ich hingegen wache auf, weil mein Handy durchdreht. Es vibriert, pingt, klingelt – eine absolute Kakophonie aus Benachrichtigungen, die mich direkt aus meinen Träumen reißt. Mit einem Stöhnen taste ich nach dem Gerät, blinzele gegen das grelle Licht und sehe auf den Bildschirm. 82 neue Nachrichten. „Was zur Hölle…?" murmele ich und entsperre mein Handy. Der erste Name, der mir entgegenleuchtet, ist Sophia. Sophia: Bist du IRRE??? Okay. Keine Begrüßung. Kein „Guten Morgen, liebe Schwester". Einfach direkt eine aggressive SMS. Ich scrolle weiter. Livia: Ella, ruf mich SOFORT an!!!
Unbekannte Nummer: Bist DU das auf den Fotos mit dem Prinzen? OMG!
Ich runzle die Stirn und öffne Instagram. Und dann wird mir alles klar. Mein Gesicht. Überall. Ich. Mit Adrian. Ich. In meinen Chucks. Ich. Auf der Tanzfläche. Ich. Am Boden mit dem Prinzen. Ich. Inmitten eines verdammten Märchens, das ich nie bestellt habe. Die Schlagzeilen sind genauso schlimm, wie ich befürchtet habe.
„Das geheimnisvolle Mädchen in Chucks – wer ist sie wirklich?"
„Cinderella 2.0? Prinz Adrian tanzt mit mysteriöser Fremden"
„Vergesst die Stiefschwestern – diese Chaos-Queen hat alle Blicke auf sich gezogen!"
Ich lasse mein Handy sinken und schließe die Augen. Tief durchatmen. Keine Panik. Vielleicht wird das nicht so schlimm. Vielleicht interessiert das in ein paar Stunden niemanden mehr.
Dann vibriert mein Handy erneut. Diesmal ist es Viktoria. Viktoria: Wir müssen reden. Sofort. Natürlich müssen wir das. Ich wälze mich aus dem Bett, schlüpfe in meine treuen Chucks – ja, DIE Chucks, die jetzt anscheinend legendär sind – und schlurfe nach unten. Im Wohnzimmer sitzen bereits meine Stiefmutter und meine Stiefschwestern, beide mit finsteren Mienen und einer Energie, die mich an eine Gerichtsverhandlung erinnert. „Setz dich", befiehlt Viktoria.
„Guten Morgen auch", murmele ich und lasse mich in einen Sessel fallen.
Livia verschränkt die Arme. „Ella. Was. Hast. Du. Getan?" „Gute Frage." Ich reibe mir die Augen. „Was genau ist das Problem?" Sophia fuchtelt mit ihrem Handy herum. „Das Problem? DU bist das Problem! Du bist überall in den Medien! Die Leute reden mehr über dich als über uns!" „Okay, und…?" Livia fängt an zu hyperventilieren. „Und? UND?! Wir haben JAHRE damit verbracht, uns einen Namen zu machen! Wir haben auf unser Image geachtet, unsere Social-Media-Strategie perfektioniert – und dann kommst DU und ruinierst ALLES!" Ich blicke zwischen den beiden hin und her. „Wartet mal. Lasst mich das richtig verstehen: Ihr seid nicht sauer, weil ich in den Schlagzeilen bin. Ihr seid sauer, weil IHR nicht in den Schlagzeilen seid?" Sophia zieht die Nase kraus. „Natürlich sind wir sauer! Du warst nie Teil unseres Plans!" „Oh nein, wie schrecklich für euch", sage ich trocken. „Mein Beileid." Viktoria räuspert sich. „Ella, ich werde es mal einfach für dich formulieren: Das hier ist ein Problem. Ein großes Problem." „Nur für euch."
„Nein", sagt sie scharf. „Auch für dich. Du hast keine Ahnung, was du da angestellt hast." Ich zucke mit den Schultern. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nur getanzt habe und dann sehr, sehr ungeschickt über meinen eigenen Fuß gefallen bin." „Mit dem PRINZEN!" Sophia fuchtelt erneut mit ihrem Handy. „Die Leute spekulieren, ob ihr ein Paar seid!" Ich reiße die Augen auf. „Was?!"
Livia nickt heftig. „Ja! Alle fragen sich, wer du bist! Woher du kommst! Ob du seine heimliche Freundin bist! Es gibt sogar eine Theorie, dass du eigentlich eine Adlige bist, die sich undercover als Rebellin ausgibt!" Ich starre sie an. „Okay, das ist… kreativ." Viktoria massiert sich die Schläfen. „Ella, wir müssen das kontrollieren, bevor es außer Kontrolle gerät." „Zu spät", murmele ich. Sie ignoriert mich. „Wir müssen deine Geschichte anpassen. Dich neu verpacken. Wenn du klug bist, nutzt du das zu deinem Vorteil."
Ich blicke sie fassungslos an. „Warte. Willst du mir gerade ernsthaft sagen, dass ich diesen Wahnsinn ausnutzen soll?" „Natürlich!" Viktoria lehnt sich vor. „Das hier ist eine Chance, Ella! Die Welt interessiert sich für dich – also gib ihnen, was sie wollen!" Ich kann nicht glauben, was ich da höre.„Ihr habt doch alle den Verstand verloren", sage ich langsam. „Das hier ist kein Film. Ich will kein Star werden. Ich will nicht die nächste Royal-Romance-Sensation sein." „Dann hättest du nicht mit dem Prinzen tanzen sollen", zischt Sophia. Ich knurre frustriert. „Ich wusste ja nicht, dass das meine Eintrittskarte in eine Reality-Show ist!" Viktoria hebt eine Augenbraue. „Dann solltest du lernen, schlauer zu sein." Ich presse die Lippen zusammen. Natürlich sieht sie das so. Für sie ist das alles nur ein Spiel. Image. Einfluss. Macht. Sie kann nicht verstehen, dass ich einfach nur… ich sein will. Ich stehe auf. „Wisst ihr was? Macht, was ihr wollt. Aber lasst mich da raus." Livia fängt an zu protestieren, aber Viktoria hebt eine Hand. „Ella, denk gut nach. Wenn du das jetzt ablehnst, könnte das deine einzige Chance sein." Ich blicke ihr direkt in die Augen. „Gut." Ich hebe mein Kinn. „Dann verzichte ich dankend." Und mit diesen Worten drehe ich mich um und verlasse den Raum. Mein Kopf dröhnt. Ich schnappe mir meine Jacke, steige auf mein altes Fahrrad und fahre los, einfach nur weg. Wohin? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich nicht Teil von Viktorias Spiel sein werde.
Nicht jetzt. Nicht jemals.