Leonel stürmte eine Wendeltreppe hinunter. Mit einem Sprung überwand er das Geländer, ließ die letzten Stufen aus und landete im Wohnzimmer. Er sprang über ein Sofa, bog um die Ecke in die Küche und schnappte sich eine Flasche mit übelgrüner Flüssigkeit.
„Danke für die tägliche Dosis Kuhmist, Papa. Wirklich toll."
Ein Mann mittleren Alters blickte von seinem Tablet auf und schob seine Brille mit ein paar Fingern nach oben. Er saß hinter den großen Glastüren, die vom Wohnzimmer in den Garten führten, als die üblichen beleidigenden Bemerkungen seines Sohnes an seine Ohren drangen.
„Wieder auf dem Weg zum Scheitern?"
„Diesmal schaffe ich es!"
Anstatt zur Haustür hinauszustürmen, ging Leonel tatsächlich wieder die Wendeltreppe hinauf.
„Das hast du die letzten hundert Male auch gesagt."
Leonel wartete nicht auf die nächste sarkastische Bemerkung seines Vaters. Er stieß die Dachbodentüren auf und schwang sich aus den dreigeschossigen dreieckigen Fenstern. Seine Aktionen sahen nicht anders aus als ein Selbstmordversuch, aber seine Hand erwischte gerade noch die Kante und schwang sich nach oben, um sich an einem schwächelnden Wasserablaufrohr festzuhalten.
Wie ein flinker Affe, den Plastikdeckel seiner Flasche zwischen den Zähnen, kletterte er aufs Dach und landete mit geübter Leichtigkeit auf den schrägen Ziegeln.
[Betreff: Leonel Morales]
[Verstoß Code 118.67.2 - Unbefugtes Besteigen eines Wohngebäudes. Nach dem Parkour- und Freerunning-Gesetz von 2034 wird dies als Vergehen der Stufe 1 eingestuft]
[Es wird empfohlen, dass Betroffener Leonel Morales die illegale Aktivität sofort einstellt, um Anklage zu vermeiden]
Leonel ignorierte die piepende weibliche Stimme aus seinem Handgelenk, seine Augen hatten sich bereits auf sein nächstes Ziel fixiert.
Die Vorstadt, in der Leonel und sein Vater lebten, war ziemlich wohlhabend und konnte zur oberen Mittelschicht gezählt werden. Die Lage ihres Hauses konnte jedoch nur als seltsam beschrieben werden. Oder vielmehr war die gesamte Vorstadtgemeinde unerwartet.
Die Gemeinde existierte auf einer großen schwebenden Plattform, die wie der Mond um die Erde eine Hauptstadt unter ihr umkreiste. Diese sogenannten Schwebenden Paradiese dienten als Lösung für die Wohnungskrise von 2066 und behoben das Problem effektiv durch die Schaffung zusätzlicher Wohnfläche.
Heutzutage konnten nur die obszön Reichen auf der Oberfläche leben. Leonels Ziel war zufällig diese erhabene Oberflächenwelt. Während die meisten, die in diesen Schwebenden Paradiesen lebten, sie nur gelegentlich zu Gesicht bekamen, reiste Leonel fast täglich hinunter.
'... 17 Sekunden.'
Leonel kauerte auf dem Dach seines Hauses. Sein und seines Vaters Haus befand sich am äußersten Rand des Schwebenden Paradieses. Natürlich wurden mehrere Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Aber das würde Leonel nicht aufhalten.
Trotz seines Aussichtspunkts konnte er den Garten nicht sehen, in dem sein Vater gesessen hatte. Tatsächlich sah sein Haus von außen völlig leer aus, aufgrund einer Privatsphäre-Einstellung.
Er warf seinen Kopf zurück und nahm einen großen Schluck von seines Vaters grüner Mixtur. In diesem Moment schien nicht nur seine Zunge Feuer zu fangen, sondern auch seine Lungen brannten. Man hätte meinen können, er würde den Rauch eines lodernden Feuers einatmen anstatt einen Smoothie zu trinken.
„Agh... Diesmal hast du dich selbst übertroffen, alter Mann."
Plötzlich machte Leonel einen Sprung. Zunächst schien es, als würde er nicht sehr weit kommen. Er würde drei Stockwerke fallen und mit Glück mit einem gebrochenen Bein davonkommen.
Doch dann traf ihn plötzlich eine Windböe. Wären da nicht die stabilen Riemen gewesen, wäre sein Rucksack komplett weggeflogen.
Ein heftiges ZISCH erfüllte Leonels Ohren, als er in den Himmel getragen wurde.
Seine Arme und Beine ausgebreitet, spielte ein erfrischendes Lächeln um seine Züge, als ob er nicht merkte, dass er für jeden vernünftigen Beobachter nicht anders als ein Verrückter aussah.
Er war ein einsamer Mann über den Wolken, im freien Fall ohne eine Sorge in der Welt. Seine Kleidung peitschte gegen seinen Körper und enthüllte einen versteckten durchtrainierten Oberkörper.
Als es schien, als würde Leonel hunderte Meter zur Oberfläche fallen, rollte sich sein Körper zusammen und überschlug sich, durchbrach eine Schicht weißer Wolken, die erfrischenden Tau über sein Gesicht sprühten. Seine letzte Müdigkeit verschwand ohne einen Gedanken.
Mit einem dumpfen Aufprall rollte er über den harten Boden. Es dauerte nur einen Moment zu erkennen, dass dies tatsächlich gar nicht der Boden war, sondern vielmehr die oberste Etage eines Wolkenkratzers, der die Wolken zu stützen schien.
„Perfekte Punktzahl." Leonel grinste und lobte sich selbst.
[Verstoß Code 213.13.1 - Unbefugter Zutritt zur Oberfläche. Nach dem Himmelinseln Act von 2071 wird dies als Verbrechen der Stufe 7 eingestuft]
[Betroffener Leonel Morales, 17, wurde zur Festnahme ausgeschrieben. Es wird empfohlen, dass der Betroffene an Ort und Stelle bleibt, um zusätzliche Anklagen zu vermeiden]
[Betroffener als minderjährig eingestuft. Guardian Velasco Morales wurde kontaktiert]
[Fehler. Kommunikationsausfall. Neustart wird versucht]
Leonels Grinsen wurde breiter. Einen pensionierten Regierungsbeamten der Stufe 5 als Vater zu haben, hatte seine Vorteile. Zum Beispiel wurden alle Verbrechen, die mit einem Pensionär solchen Prestiges in Verbindung standen, direkt vom Büro für Nachrichtendienst und Schutz, oder kurz BNS, bearbeitet.
Da Leonel minderjährig war, wurden alle seine Verbrechen an seinen Vater weitergeleitet, um vom BNS überprüft zu werden. Mit dem Namen seines Vaters im Rücken wurden kleine Verbrechen wie diese direkt ignoriert. Leider stand sein achtzehnter Geburtstag jedoch bald bevor.
Leonel sprang auf und griff nach einem silbergerahmten Fahrrad, das in einer Ecke versteckt war. Er sprang von der Seite des Gebäudes, schwang den Fahrradsitz zwischen seine Beine, gerade als er fest auf einer zylindrischen Glasstruktur landete, die an der Seite des Wolkenkratzers befestigt war.
Aufgrund des erstickenden Platzmangels und der obszönen Preise pro Quadratmeter war fast jedes Gebäude an der Oberfläche irgendwie miteinander verbunden. Die Himmel waren gefüllt mit Glastunneln, turmhohe Strukturen waren manchmal nicht mehr als ein oder zwei Meter voneinander entfernt, und private Fahrzeuge waren selbst für die Reichen, die es sich leisten konnten hier zu leben, unglaublich selten.
„Geh zur Schule auf dem normalen Weg, Junge!"
Leonels Lachen hallte, als ob es keinen mehrere hundert Meter tiefen Abgrund unter ihm gäbe.
„Verpiss dich, Lenny. Ich fange an die Röhre zu nehmen, sobald du einwilligst, diese lächerlichen Gebühren für mich zu bezahlen."
„Mein Name ist nicht Lenny!"
Leonel trat in die Pedale, um der nächsten Runde Nörgeleien des alten Mannes zu entgehen. Er wusste immer noch nicht, wie der alte Mann es schaffte, immer zu wissen, wann er ankam, und hatte auch keine Ahnung, woher seine Stimme projiziert wurde, aber er konnte nur vermuten, dass er hinter einem dieser Einwegspiegel-Fenster schmollte.
Während er durch die Hochhäuser der Oberflächenstadt raste, bewegte sich Leonel viel schneller durch den dichten Metallwald als viele für möglich hielten. Schließlich begannen die hohen Wolkenkratzer niedriger zu werden und Leonel hatte keine andere Wahl, als seine Taktik zu ändern, wenn er nicht von irgendwelchen Wichtigtuern erwischt werden wollte.
Er fand seine übliche Hintertür, ließ sich jeweils etwa drei Meter fallen, sprang mit seinem Fahrrad von Glastunnel zu Balkon zu Laternenpfahl, bevor er schließlich auf dem Boden landete.
Er nahm seinen Rucksack vom Rücken und holte eine graue Stoffhose, ein frisch gebügeltes weißes Hemd und einen marineblauen Blazer heraus.
Schnell zog er seine Sportkleidung aus. Nachdem er einen papiergroßen Spiegel an eine große Müllentsorgungstonne gelehnt hatte, strich er sich die Haare mit seinem angesammelten Schweiß zurück.
„Auffrischen."
Ein UV-Licht fegte über Leonels Körper. Blitzartig wurde sein sich aufbauender Körpergeruch getötet, ersetzt durch einen neutralen, erfrischenden Duft.
In einem Moment hatte er seine graue Plissee-Hose angezogen, sein Hemd zugeknöpft und seinen blauen Blazer übergezogen. Nachdem er seinen Rucksack aufgesetzt hatte, stand er in seiner vollen Größe von 1,90 m auf.
Er lächelte in seinen aufgestellten Spiegel. Nicht weil er übermäßig zufrieden mit seinem Aussehen war, obwohl er als ziemlich gutaussehend gelten konnte. Vielmehr testete er, welches Lächeln am charmantesten rüberkam.
Seine Haut war bronzefarben gebräunt, sein kurzes Haar wehte frei im Wind mit seiner schmutzig-blonden, fast bernsteinfarbenen Farbe, und seine Augen waren hellgrün.
Leonel war nicht nur groß und durchtrainiert, sondern sein Körperbau war sowohl schlank als auch gut gebaut. Trotzdem hatte er eine freundliche und einladende Ausstrahlung. Seine Präsenz ließ andere sich wohl fühlen.
In Wahrheit würden andere ihn für verrückt halten, wenn sie wüssten, dass er sein Lächeln übte. Er war mehr als charmant genug, gab es da noch einen Grund zu üben?
Überraschenderweise verging fast eine Stunde, bevor Leonels Uhr erneut piepte. Als ihm klar wurde, dass er zu spät kommen würde, wenn er noch mehr Zeit verschwendete, sprang er auf sein Fahrrad. Aber sein Tempo war diesmal viel langsamer, da er seine Bemühungen nicht durch erneutes Schwitzen zunichte machen wollte.
Er hatte nicht mehr weit zu fahren. Die Straßen, die zu seiner Schule führten, waren ganz anders als die überfüllten Viertel, durch die er zuvor gefahren war. Es war wie das Betreten einer völlig neuen Welt.
Überall war Grün, alte Bäume erholten sich lebendig von den Wintermonaten, und gewundene Pfade führten zu wunderschönen architektonischen Meisterleistungen.
Dieser Ort war die drittbeste Akademie auf der Erde, ein prestigeträchtiger Ort nur für die Elite der jüngeren Generation — die Königliche Blaue Akademie.
„Leo!"
„Viel Glück!"
„Wir haben Wetten auf deinen Erfolg diesmal!"
Leonel grinste, als er an einigen Gruppen von Schülern vorbeifuhr, die sich auf den Weg zu ihrem Unterricht machten, und winkte zur Bestätigung.
Bald fiel Leonels Blick auf ein massives kuppelartiges Gebäude. Es erstreckte sich in alle Richtungen über hunderte von Metern und hatte allein von vorne mehrere Eingänge.
Selbst unter den Schülern der Königlichen Blauen Akademie gab es verschiedene Trennungen. Nur die höchstrangigen Abschlussschüler durften dieses Gebäude betreten.
Doch selbst mit solch einem Meisterwerk vor sich war Leonels Blick völlig erfüllt vom Anblick einer einzigen jungen Dame, die nahe der Spitze einer breiten weißen Marmortreppe stand.
Sie sah aus wie eine zarte Fee, die vom Himmel herabgestiegen war. Ihr langes, fließendes schwarzes Haar wehte sanft im Wind und ruhte nur gelegentlich in ihrem unteren Rücken. Ihre Augen waren ein warmes Bernsteinfarben, das an Gold grenzte und sie wie eine von der Welt getrennte Göttin erscheinen ließ.
Eine kleine Gruppe von Freunden stand um sie herum. Ihr Geplänkel brachte sie zu einem schüchternen Lächeln, das Leonels Herz ergriff und nicht mehr losließ.
Als sie aufblickte und Leonels Blick begegnete, hatte er das Gefühl, dass die ganze Welt außer ihr in verschiedene Weißtöne getaucht war.
Ihre zarte gebräunte und dennoch helle Haut, die kleine Neigung ihrer Nase, die Art wie der Wind sanft ihr knöchel-langes Kleid streichelte und die Kurven enthüllte, die sie so bescheiden verbarg.
Obwohl sie keine 1,70 m groß war, hatte sie eine Präsenz, die die Welt in ihren Bann zog, eine größere als selbst Leonel glaubte zu haben.
Die junge Fee errötete heftig, als sie sah, dass es Leonel war, eine karmesinrote Welle wanderte von ihrem schlanken Schlüsselbein ihren Hals hinauf und überzog ihre weichen Wangen.
„Aina..." Leonels Stimme war kraftvoll und voller Emotion, als ob dies das allererste Mal wäre, dass er dies tat.
„Ah, er ist wieder da." neckte eine von Ainas Freundinnen.
„Hör auf, ihn zu ermutigen." widersprach eine energischere Freundin. „Die arme Aina wird seit vier Jahren von ihm zu Tode belästigt. Verschwinde!"
Leonel schien an diese Guter-Polizist-Böser-Polizist-Routine gewöhnt zu sein. Aber die Wahrheit war, er konnte sie nicht einmal sehen oder hören. Seine Sinne waren unvergleichlich fokussiert.
„Ich werde nicht aufhören, bis ich eine echte Antwort von dir habe." Leonels Blick brannte. In diesem Moment schienen seine hellgrünen Augen ein neues Licht zu gewinnen und wurden grüner als selbst die Bäume um sie herum. „Ich muss dein Mann sein. Willst du mich haben?"
Die umstehenden Schüler hielten alle gleichzeitig inne, als ob sie kollektiv den Atem anhielten.
Ainas Wangen wurden um mehrere Rottöne dunkler, fast so reif wie eine Tomate. Ihre kleinen Lippen zitterten, bevor sie sich umdrehte und die Stufen hinauflief und in den Akademiehallen verschwand.
Leonel erntete einen weiteren bösen Blick von Ainas energischer Freundin, bevor sie und die viel freundlichere junge Dame der verlegenen Aina hinterherliefen.
Am Ende konnte Leonel nur seufzen. Schien, dass heute ein weiterer Misserfolg war.