Kapitel 5: Wolf

Elize neigte ihren Kopf verwirrt zur Seite und vergaß für einen Moment, dass sie entführt worden war.

"Kenne ich dich?" fragte sie.

Der Mann, der vor ihr stand, war für einen Moment überrascht. Aber er verbarg es schnell. Sein Gesicht verhärtete sich wieder. Elize trat aus dem Zimmer und begann langsam auf ihn zuzugehen. Sie wusste nicht, was über sie gekommen war. Aber es war, als ob sie instinktiv ihm näher sein wollte. Sie wusste, dass sie etwas vergaß.

Sie wollte etwas wissen. Was war es?

Der Mann war ziemlich groß, dachte Elize. Vielleicht sogar größer als Alex.

Alex! Ihr Bruder ist nicht bei ihr!

Sie blieb mitten im Korridor stehen, einen Schritt vom Fremden entfernt. Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger auf sein Gesicht.

"Du! Du hast mich hierher gebracht!" beschuldigte Elize den Mann und verengte ihre Augen.

Er stand über Elize, blickte auf sie herab, sein Gesichtsausdruck unverändert, als ob sie keine Bedeutung hätte. Ein tiefes Knurren ertönte irgendwo als Warnung.

"Wie wagst du es, mit dem Finger auf unseren Alpha zu zeigen?!" donnerte eine Stimme hinter ihm.

Es war der andere Mann, mit dem er vorher gesprochen hatte. Elize trat zur Seite, um den Mann hinter der Stimme zu sehen. Er war groß - aber mindestens drei Zoll kleiner als der Mann, den er gerade Alpha genannt hatte. Er hatte klare braune Augen und blasse Haut. Sein schwarzes Haar wurde ordentlich von einem Band zurückgehalten. Sein schwarzes T-Shirt wurde von den Muskeln darunter gespannt. Wo immer seine Haut zu sehen war - sie war mit Tattoos bedeckt - außer in seinem Gesicht.

Sie hob ihre rechte Augenbraue zu ihm "Dann möchtest du vielleicht meine Frage beantworten?"

Der Mann schien mit jeder Sekunde gereizter von ihr zu werden.

"Genug Mikail. Sie ist nur eine Frau." befahl Blaue Augen mit tiefer Stimme.

Daraufhin zog sich der tätowierte Mann zurück und beugte seinen Kopf. Aber seine Fäuste waren geballt. Für einen Moment wollte Elize näher an den Ursprung dieser Stimme herantreten. Aber sie widerstand. Wie konnte er es wagen, die Frauenwelt zu beleidigen?!

"Was. Hast. Du. Gerade. Gesagt?!!!" schrie Elize. "NUR eine Frau, du großes Stück Scheiße?!"

Sie konnte nicht anders. Sie hatten es herausgefordert. Daraufhin drehte sich der Fremde zu ihr um, sichtlich verärgert. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder, als ob er es besser wüsste.

Elize zählte bis zehn und atmete langsam, um sich zu beruhigen. Sie konnte sich nicht ablenken lassen. Sie brauchte ihre Antworten.

"Schau," sagte sie mit mehr Entschlossenheit, "ich glaube, ich habe mich verirrt. Ich muss meinen Bruder finden. Ist das die Insel?"

Der Mann verengte seine Augen. "Woher weißt du von diesem Ort?"

Erleichtert über die offensichtliche Antwort auf diese Frage entspannte sie sich ein wenig.

Sie erklärte. "Siehst du, ich wurde eingeladen. Jemand wartet auf mich und ich wette, sie macht sich gerade große Sorgen."

Sein Blick auf sie verhärtete sich. Er glaubte ihr nicht.

"Wie hast du ein Portal geöffnet? Du riechst nicht wie ein Mensch."

Elize war überrascht. Wie konnte er das wissen?! Und was meint er mit riechen?

"Ich weiß nicht, wovon du sprichst." Elize zappelte herum.

Der Mann kam näher zu ihr, als sie vor seiner Präsenz zurückwich. Er drängte sie gegen eine Mauer. Er platzierte seine Hände auf beiden Seiten der Mauer und beugte sich gefährlich nah an ihr Gesicht.

"Lüg mich nicht an, Frau. Ich kann deine Angst riechen. Du lügst." sagte er und atmete auf sie herab.

Elize wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte einen seltsamen Drang, sich näher zu ihm zu lehnen und an ihm zu riechen. Er roch wie die Erde an einem regnerischen Tag, vermischt mit süßem Honig. Sie schüttelte den Kopf. Nicht jetzt, dachte sie bei sich. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich auf den Mann, der jetzt vor ihr stand. Sie musste fliehen.

'Beweg dich'! Sie zwang ihre Magie mit aller Kraft auf den Mann, der sie jetzt blockierte.

Er taumelte ein wenig zurück. Aber das war genug für sie. Sie stürzte sich auf die andere Seite des Korridors und rannte so schnell sie konnte.

Als sie den Flur entlanglief, entdeckte sie eine Treppe, die zum unteren Stockwerk führte. Sie nahm eine scharfe Rechtskurve und stürmte die Treppe hinunter. Sie schaute zurück - niemand folgte ihr. Gott sei Dank! Sie ging an so vielen Leuten vorbei, die sie anstarrten. Niemand versuchte, sie aufzuhalten.

Sie rannte, was wie eine Ewigkeit schien, bis sie das Erdgeschoss erreichte. Geradeaus entdeckte sie eine große Tür, die nach draußen führte. Endlich! dachte sie.

Sie rannte direkt nach draußen und sprang die fünf Stufen hinunter, die das Gebäude vom Boden trennten. Das war ein Fehler. Sie stolperte und fiel direkt auf den harten Boden.

Schmerz schoss durch ihren Kopf, der einen direkten Treffer abbekommen hatte. Irgendwie schaffte sie es, sich aufzusetzen. Sie fühlte sich taub auf der linken Seite ihres Kopfes. Etwas sickerte durch ihr Haar in Richtung ihres Ohrs. Sie fühlte mit ihrer nun schmutzigen Hand an der Seite.

"Autsch!" rief Elize und betrachtete ihre Hand.

Da war Blut darauf. Plötzlich wurde ihr schwindelig. Nein. Sie musste aufstehen und rennen. Langsam drückte sie sich vom Boden hoch. Alles drehte sich vor ihr. Sie legte ihre rechte Hand über ihre Wunde und versuchte, ihre Magie darauf zu lenken.

'Heile'.

Sie wollte es mit allem, was sie hatte. Sie konnte fühlen, wie sich die Haut um ihre Wunde dehnte und sich langsam selbst heilte.

"Das erklärt einiges." flüsterte jemand in ihr Ohr von hinten.

Erschrocken drehte sie sich um. Da stand der kleine Junge vom Strand mit demselben breiten Lächeln auf seinem Gesicht.

"Brandt." sagte er und streckte seine rechte Hand nach ihr aus.

Zumindest trug er diesmal ein T-Shirt, dachte sie. Elize begann zurückzuweichen.

"Lauf nicht weg. Ich werde dir nicht schaden."

"Du bist mit ihnen!" beschuldigte sie ihn und verengte ihre Augen.

Brandt zuckte mit den Schultern, als ob sie das Offensichtliche feststellen würde.

"Komm nicht näher. Ich warne dich. Ich kann dir wehtun, wenn ich will." warnte sie.

Er nickte zustimmend.

"Aber ich kann dir helfen." bot er an.

"Wie?" fragte sie.

Elize war misstrauisch gegenüber dem Jungen. Er mochte ein Junge sein. Aber er war einer von ihnen. Sie begann rückwärts zu gehen, mit ihrem Gesicht zu ihm gewandt.

"Du willst wissen, wo dein Bruder ist?"

Daraufhin hielt Elize inne. "Du weißt, wo er ist?"

Ein kleines Lächeln bildete sich auf seinem jungenhaften Gesicht.

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Der Junge, dessen Name Brandt war, führte Elize direkt in den Wald. Nach einem zehnminütigen Spaziergang kam eine Lichtung zum Vorschein. Ein großes weißes Cottage stand in der Mitte. Er öffnete die großen hölzernen Vordertüren und bedeutete ihr, einzutreten. Elize zögerte, folgte ihm aber dennoch hinein.

Als sie sich zu einem Zimmer wandte, sah sie Alex auf einem großen Bett sitzen, den Kopf in den Händen. Er sah aus, als wäre er in tiefe Gedanken versunken.

"Alex!" rief Elize beim Anblick ihres Bruders.

Alex schaute überrascht zu seiner Schwester auf. Erleichterung überkam seine Züge, sobald er sie sah. Er stand vom Bett auf und rannte auf sie zu, umarmte sie für gute fünf Minuten.

"Gott sei Dank bist du hier, Elize! Ich war so besorgt. Wo warst du die ganze Zeit?" fragte Alex und hielt seine Schwester von sich weg, um sie genau zu betrachten.

"Mir geht es gut, Alex. Ich bin hier." sagte Elize mit einem Lächeln im Gesicht.

Alex lächelte zurück.

"Aber wo warst du?"

Elize lächelte "Ich-"

Sie wurde von einem tiefen Knurren unterbrochen. Es kam von außerhalb des Gebäudes. Sie schaute verwirrt zu Brandt.

Brandt zuckte mit den Schultern "Sieht aus, als hätte er dich gefunden."

Alex stellte seine Schwester schützend hinter sich. "Wer-"

Die Vordertür fiel mit einem lauten Krachen. Elize sprang bei der Explosion auf.

Neben ihr konnte sie spüren, wie Alex sich anspannte. Sein Körper zitterte plötzlich und wurde mit jeder Minute heißer.

"Alex!" Sie zog an der Hand ihres Bruders. "Alex, was passiert?!"

"Geh weg von ihm!" dröhnte eine vertraute Stimme von der Türschwelle.

Alex' Zittern verstärkte sich. Er beugte sich nach unten und fiel auf den Boden, als ob er Schmerzen hätte.

"Alex!" Elize fiel neben ihm nieder. Sie setzte sich auf den Boden und schüttelte ihren Bruder verzweifelt.

Plötzlich riss etwas sie von ihrem Bruder weg. Irgendwie stand sie jetzt außerhalb des Cottages. Sie hörte Alex ihren Namen von innerhalb des Hauses schreien, gefolgt von einem tiefen Knurren.

Sie rannte ohne zu zögern hinein. Etwas geschah mit Alex. Sie musste ihn heilen!

Dort, in der Halle außerhalb des Schlafzimmers, in dem sie vor ein paar Minuten gestanden hatten, standen zwei riesige Kreaturen einander gegenüber, bereit, sich gegenseitig zu zerreißen. Brandt stand direkt hinter ihnen, sein Gesichtsausdruck unbeeindruckt. Was sind sie?! Ein Gefühl von Déjà-vu überkam Elize.

Wölfe. Es waren Wölfe!

"Wolf." flüsterte sie, unfähig zu glauben, was vor ihr stand.

Zwei Paar braune Augen fixierten Elize. Einer der Wölfe starrte sie an, auf etwas bedacht. Er schien ihr zu sagen, sie solle rennen.