Kapitel 38: Jemandes Emotionen

"Aargh! Ich hasse mein Leben gerade." Elize stöhnte und drehte sich in ihrem Bett um. Es war schwer, ohne Zack neben ihr zu schlafen, besonders jetzt, wo sie sich daran gewöhnt hatte. Der Gedanke, dass Zack sie mit ihrem Bruder zurückgelassen hatte und plötzlich verschwunden war, kam ihr immer wieder in den Sinn. Sie hatte sich in der letzten Stunde hin und her gewälzt, aber vergeblich. Der Schlaf weigerte sich, in ihre Nähe zu kommen.

"Bitte geh schlafen, Elize!" beschwerte sich Agatha mit schlaftrunkener Stimme.

"Ich kann nicht." murmelte Elize. Agatha brabbelte etwas im Schlaf und drehte sich von ihr weg. Elize schmollte und presste ihre Lippen zusammen. Anfangs schien die Idee, mit ihrer besten Freundin zu übernachten, trotz der Umstände, wie es dazu kam, eine großartige Idee zu sein, da sie noch nie eine Übernachtungsparty hatte. Aber besagte Freundin schien mehr am Schlafen interessiert zu sein als daran, mit ihr die Nacht durchzureden. So eine Enttäuschung, dachte sie. Wer würde sie unterhalten, wenn Agatha schlafen wollte?

"Wach auf, Agatha. Bi-itte." jammerte Elize und schob ihre Freundin mit den Beinen zum Bettrand. Es gab keine Bewegung. Verärgert kickte sie ihre Freundin aus dem Bett. Agatha landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden.

"Autsch! Elize!" rief sie und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken. Diesmal war Elize sicher, dass ihre Freundin wach war.

Mit einem bösen Lächeln im Gesicht nahm sie ein Kissen. Agathas Augen weiteten sich, als sie erkannte, was gleich passieren würde. Elize lachte und hob das Kissen über ihren Kopf, zielte auf das Mädchen am Boden.

"Obstupefacio!" sagte Agatha schnell und schnippte mit den Fingern in Sekundenbruchteilen. Eine kleine Spur von Magie verließ ihren Körper und stürzte plötzlich auf Elize zu. Bevor sie sich verteidigen konnte, heftete sich die Kraft an ihren Körper.

"Hey! Das kannst du nicht machen!" beschwerte sich Elize, unfähig sich zu bewegen. Ihre Hände waren immer noch über ihrem Kopf erhoben und hielten das Kissen.

Agatha stand mit einem zufriedenen Lächeln vom Boden auf. Sie rieb sich den imaginären Schmutz von ihrem Hintern und sprang auf das Bett.

"Was willst du jetzt tun, kleines Mädchen?" verspottete sie Elize und beugte sich zu ihrem Gesicht.

Elize funkelte die blonde Hexe vor ihr an. Sie plante, dass sie sie, sobald sie frei wäre, mit ihren eigenen Haaren erwürgen würde. Sie musste irgendwie loskommen. Aber wie? Elize dachte angestrengt nach.

'Absorbiere die Magie.' Die Worte blitzten plötzlich in ihrem Kopf auf.

'Wer ist da?' fragte Elize zurück.

Aber es kam keine Antwort. Genau wie neulich, als sie Brandt geheilt hatte, waren die Worte plötzlich gekommen und gegangen. Es gab keine anhaltende Präsenz von jemandem in ihrem Kopf, noch irgendein Geräusch. Es war, als würde sie ein Gespräch mit ihrem eigenen Verstand führen. Aber das war nicht einmal der seltsamste Teil. Obwohl sie keine Ahnung hatte, woher dieses Wissen kam, wusste sie, sobald die Worte in ihrem Kopf aufleuchteten, genau, was sie tun musste, genau wie beim letzten Mal.

"Seltsam." sinnierte sie laut, in ihre eigenen Gedanken versunken. Für einen Moment vergaß sie, dass sie nicht allein war.

"Hä?" fragte Agatha.

Elize ignorierte ihre Freundin und konzentrierte sich darauf, die Magie in sich hineinzuziehen. Mit geschlossenen Augen rezitierte sie: "Höre mein Flehen, Geist meiner Vorfahren, absorbiere, was mich bindet, und befreie mich sofort."

Sobald sie zu rezitieren begann, entstand ein brennendes Gefühl an ihren Fingerspitzen. Schnell breitete es sich in ihrem ganzen Körper aus. Der ganze Raum füllte sich mit einem blauen Leuchten, als der Zauber vollendet war. Agathas schockiertes Gesicht wurde mit jeder Sekunde blasser. Als schnelle Reaktion auf das, was direkt vor ihr geschah, stolperte das Mädchen zurück. Elize starrte ihre Hände verwundert an. Blitzartig verschwand das Licht und hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut. Sie fühlte sich plötzlich energiegeladener als je zuvor.

"Wa- Was ist gerade passiert?" fragte Agatha und drückte ein Kissen gegen ihre Brust.

Elize lachte wahnsinnig. Sie konnte nicht glauben, dass sie das gerade getan hatte! Wie viele weitere Überraschungen würde sie noch erleben, während sie ihre eigenen Kräfte entdeckte? fragte sie sich.

Plötzlich wurde die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen. Die Wucht des Stoßes ließ die Tür gegen die Mauer knallen und verursachte ein lautes Geräusch. Die Mädchen sprangen erschrocken auf. Zwei Gestalten standen im Türrahmen, ihre Silhouetten gegen das Licht im Flur waren ununterscheidbar monströs. Sie sahen aus wie eine Kreuzung zwischen Mensch und Wolf, aber eines war sicher von ihrem Aussehen her - einer war männlich und der andere weiblich. Agathas kalte Hände packten Elize und zogen sie zum Bettrand.

Eine der beiden Gestalten trat langsam vor. Es war das, was sie für einen Mann hielt. Sobald er das Zimmer betrat, begann sein Aussehen sich zu verzerren. Innerhalb von Sekunden stand eine menschliche Gestalt vor ihr. Elize nahm all ihren Mut zusammen, um zu sprechen.

"Ich warne dich-"

"Elize, geht es dir gut?"

Beide sprachen gleichzeitig. Aber sie hörte deutlich, was der Mann gesagt hatte. Er fragte, ob es ihr gut ginge? Und warum klang es wie-

*Klick*

Jemand hatte das Licht eingeschaltet. Elize blinzelte zweimal, um ihre Augen an das Licht zu gewöhnen. Sobald sie sah, wer vor ihr stand, fühlte sie sich peinlich berührt. Agatha begann neben ihr zu lachen.

"Alex, Meifeng." Elize erkannte die Personen, die mit besorgten Gesichtern vor ihr standen. "Nächstes Mal klopft bitte an. Sich an Hexen heranzuschleichen ist nicht immer eine gute Idee." warnte sie und verengte ihre Augen auf das Paar.

"Geht es dir gut?" fragte Alex und ignorierte die Drohung. Seine Augenbrauen hoben sich, als er die Frage stellte. So sah er immer aus, wenn er anfing, sich zu viele Sorgen um etwas zu machen, genau wie ihre Mutter es früher tat. Dachte sie mit einem Lächeln.

Alex' Ausdruck änderte sich, als er das Lächeln auf dem Gesicht seiner Schwester sah. Er ging zum Bett und setzte sich neben sie.

"Mir geht's gut, Alex. Was könnte mir schon passieren?" fragte Elize und nahm die Hand ihres Bruders. Es wärmte ihr Herz, die Besorgnis auf dem Gesicht ihres Bruders zu sehen. Egal was war, er war immer für sie da, seit sie ein Kind war. Immer da, um sich anzulehnen. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ihre ganze Kindheit mit traurigen, einsamen Tagen gefüllt gewesen. Alex' Lippen formten sich bei der Frage zu einer dünnen Linie. Es war klar, dass er irgendwie unzufrieden mit ihr war. War es wegen ihres Schmollens den ganzen Tag?

"Habe ich etwas falsch gemacht, Bruder?" fragte sie und versuchte, so süß wie möglich zu klingen. Sie wollte nicht vor allen für etwas ausgeschimpft werden, wovon sie keine Ahnung hatte. Was sollte dieses ganze Drama? dachte Elize bei sich.

"Elize," Eine süße Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit zum Bettrand. Meifeng lächelte sie sanft an. "Ist hier etwas passiert? Wir waren unten und plötzlich gab es einen Energieschub aus dem Zimmer."

"Ähhhh-" Elize wusste nicht, was sie ihnen sagen sollte. Was sollte sie ihnen überhaupt sagen? Dass sie mit ihrer Freundin herumgespielt hatte und es nichts Ernstes war? Alex würde ausrasten, wenn er eine solche Erklärung hören würde. Er hatte sie mehr als einmal davor gewarnt, ihre Kräfte leichtsinnig zu benutzen, wenn sie nichts darüber wusste.

"Oh, es ist nichts. Wir haben nur ein paar Zaubersprüche geübt." sagte Agatha fröhlich und wischte ihre Fragen beiseite.

"Ist das wahr, Elize?" fragte Alex, der der Erklärung offensichtlich nicht glaubte. Er lehnte sich zu Elize und ließ seine leuchtenden Wolfsaugen aufblitzen.

"Versuchst du, mich einzuschüchtern, Kleiner?" fragte Elize und verengte ihre Augen. "Das funktioniert nicht mehr bei mir. Ich bin groß." fügte sie hinzu und hob ihr Kinn.

Alex schüttelte den Kopf, ein kleines Lächeln spielte auf seinen Lippen. "Du bist für mich immer noch klein. Okay, Kind?"

Elize seufzte erleichtert. Er hat es zum Glück geglaubt, dachte sie. Sie nickte mit dem Kopf und klebte ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.

'Bruder.' Die Worte blitzten plötzlich in ihrem Kopf auf.

Diesmal brachten sie eine ganze Ladung Emotionen mit sich. Sie fühlte sich gleichzeitig traurig und glücklich. Es war, als würde sie jemanden Lieben nach langer Zeit wiedersehen. Ihr Körper reagierte natürlich auf die Emotionen, als wären es ihre eigenen. Tränen begannen in schneller Folge über ihr Gesicht zu laufen. Elize berührte verwirrt ihr Gesicht und spürte die Nässe ihrer eigenen Tränen. Was geschah hier?

"Elize, ich weiß nicht, ob ich dir das sagen sollte, aber-" Meifeng zögerte.

Elize klärte ihren Kopf und schaute ihre Schwägerin verwirrt an. "Was ist los, Meifeng?" fragte sie und rutschte vom Bett.

"Sie werden bald mit der Bestrafung beginnen." antwortete die Wölfin und schaute nervös auf das Mädchen vor ihr.