Die Tage nach dem Angriff vergingen langsamer. Das Rudel heilte, körperlich und innerlich. Doch über allem hing etwas Unerklärliches – wie ein kalter Schatten am Horizont, der sich mit jedem Atemzug näherzuschieben schien.
Fenris war stiller geworden.
Nicht distanziert, nicht fern – aber in Gedanken.
Oft fand ich sie allein am Rand des Lagers, den Blick in die Ferne gerichtet, die Schultern straff, der Atem ruhig, aber die Augen schwer.
Ich spürte es. Etwas vergrabenes.
Etwas, das sie lange mit sich herumtrug – und das sich nun zu regen begann.
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Erinnerung in der Stille
Eines Morgens, als der Himmel blass und milchig war, fand ich Fenris auf einem Felsplateau, über dem sich der Nebel wie ein altes Leichentuch legte.
Sie saß dort, die Knie angezogen, ihr Fell lag achtlos neben ihr. Der Wind fuhr durch ihr silbrig-blondes Haar, ließ es wie fahles Licht im Dunst flackern.
> „Komm“, sagte sie leise, ohne mich anzusehen.
„Ich möchte dir etwas zeigen.“
Ich setzte mich schweigend neben sie.
Der Ausblick war atemberaubend. Weite Wälder, graue Felsnasen, dahinter das dunkle Band eines fernen Fjords.
> „Hierher kam ich, als ich fünf Winter alt war“, begann sie.
„Meine Mutter hatte mich gebracht.
Nicht zum Spielen. Nicht zum Jagen.
Sondern um mir beizubringen, was es heißt, allein zu sein.“
Ihre Stimme zitterte kaum, aber ich hörte es dennoch.
Nicht vor Angst.
Vor Gewicht.
> „Sie ließ mich zurück.
Drei Tage lang.
Ich musste lernen, zu spüren, wann jemand kommt.
Wann Gefahr naht. Wann Vertrauen tötet.“
Ich sagte nichts.
Manche Geschichten dürfen nicht unterbrochen werden.
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Die Frau im Feuer
> „In der zweiten Nacht... brannte der Himmel“, fuhr Fenris fort.
„Ein Blitz hatte einen alten Baum getroffen, und das Feuer fraß sich durch den Wald.
Ich lief. Ich roch Rauch. Ich hörte Tiere schreien.
Und dann... sah ich sie.“
Sie schluckte.
> „Eine Frau. Verbrannt, aber lebendig.
Ihre Augen... sie sahen aus wie meine.
Und sie sprach Worte, die ich nicht kannte, aber spürte.
Runen, gebrannt in Fleisch.
Ich erkannte: Sie war wie ich.
Aber älter. Verlorener.
Und sie warnte mich.“
> „Wovor?“ fragte ich leise.
Fenris sah mich zum ersten Mal an.
> „Vor mir selbst.“
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Die Spur der Narben
Am Abend gingen wir zusammen zurück ins Lager.
Fenris führte mich nicht zu unserem Platz im Felsen, sondern zu einer verborgenen Ecke hinter den alten Bäumen, wo die Steine rund und dunkel glänzten.
Dort saß ein Wolf.
Alt, ergraut, die Augen milchig – aber wach.
> „Das ist Vardemund“, sagte Fenris.
„Er war der letzte Hüter des alten Pfads.
Der einzige, der die Narben lesen kann.“
Ich verstand nicht ganz, bis Vardemund sich erhob, näher trat –
und mit einer krummen Kralle die Innenseite von Fenris’ Arm berührte.
Runen.
Verblasst.
Eingebrannt.
> „Nicht von außen“, sagte er mit kratzender Stimme.
„Die Narben sprechen von innen.
Und er...“ – er sah mich an –
„... trägt dieselbe Linie.
Nicht Blut, aber Seele.“
Fenris’ Blick traf meinen.
> „Du bist mein Spiegel, Kael.
Nicht weil du mich liebst.
Sondern weil du dieselben Schatten trägst.“
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Ein Schritt tiefer
In dieser Nacht schliefen wir nicht.
Fenris lag neben mir, ihre Hand auf meinem Brustkorb, spürte meinen Herzschlag.
Ich fühlte ihre Narben unter meiner Hand – und wusste:
Sie sind kein Makel.
Sie sind Geschichte.
> „Willst du es wirklich wissen?“ fragte sie irgendwann.
Ich nickte.
> „Alles.“
> „Dann komm morgen mit mir zum Tal der Asche.“
„Dort... wurde ich nicht geboren.
Dort bin ich zur Wölfin geworden.“
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Der Weg zum Tal der Asche war steinig und still.
Fenris ging voran, ihr Blick fest, doch ich spürte die Schwere, die ihr die Schritte schwer machte.
Die Landschaft veränderte sich: Der dichte Wald wich einem kahlen, schwarzen Tal.
Der Boden war bedeckt von grauem Staub, als hätte ein Feuer alles Leben verschlungen.
Der Himmel war bleiern, und selbst die Luft schien schwer von Erinnerungen.
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Das Tal der Asche
Fenris blieb stehen.
> „Hier.“
Ich sah mich um.
Das Tal war nichts als Ruinen und Staub, aber es erzählte Geschichten.
Verbrannte Bäume ragten wie Skelette in den Himmel.
Und da, eingraviert in einen Felsen, waren Runen, die vor Schmerz und Warnung warnten.
> „Hier wurde ich verraten“, flüsterte Fenris.
„Hier habe ich gelernt, dass nicht alle Wölfe Freunde sind.“
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Die Erinnerung
In einer Vision zog mich Fenris mit sich.
Ich sah eine jüngere Version von ihr: Ein Mädchen, unsicher und verloren, aber mit Feuer in den Augen.
Dann kam der Verrat.
Ein Wolf aus dem eigenen Rudel, einer dem sie vertraute, hatte sie bewusst dem Tod ausgeliefert.
Sie wurde zurückgelassen, verletzt und allein.
> „Ich hätte sterben sollen“, sagte Fenris, die Tränen liefen über ihre Wangen.
„Aber ich lebte – und ich lernte, dass Stärke nicht aus Muskeln kommt.
Sondern aus dem Willen zu überleben.“
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Die gemeinsame Nacht
Zurück im Lager saßen wir lange am Feuer.
Fenris legte ihren Kopf an meine Schulter, ihre Stimme war weich und ruhig.
> „Du hast nichts von meinen Narben gesehen.
Aber du trägst deine eigenen.“
Wir sprachen kaum.
Doch in diesem Schweigen war mehr gesagt als mit Worten.
Ich wusste, dass wir uns gegenseitig Halt gaben – zwei gebrochene Seelen, die zusammen etwas Ganzes wurden.
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Ein Moment der Offenbarung
> „Warum hast du mir das erzählt?“ fragte ich sie leise.
Fenris sah mich an, die Augen glänzten.
> „Weil du mehr bist als ein Gefährte.
Du bist der einzige, der mich versteht.
Nicht trotz meiner Vergangenheit –
sondern wegen ihr.“