Vom Topf zum Feuer

Eine Stunde später wischte Anastasia zusammen mit Theresa den Boden.

Die Begeisterung für Charlotte war aus ihren Augen verschwunden und wurde durch Enttäuschung ersetzt. In einem Winkel ihres Herzens wollte sie Charlotte den Vorteil des Zweifels geben, aber der Anblick des Holzkohlepulvers auf Charlottes Händen konnte den Verrat, der geschehen war, nicht verbergen.

So weit zu gehen und zu stehlen... Anastasia konnte nur vermuten, dass Charlotte ihre Skizzen benutzt hatte, um in die Nähe von Prinzessin Niyasa zu gelangen. Sie bemerkte, wie Charlotte von einem Ende des Korridors zu der Stelle ging, an der sie und Theresa arbeiteten.

"Besuchst du Prinzessin Niyasa, Charlotte?" fragte Theresa, ohne zu wissen, was Charlotte getan hatte.

Charlotte lächelte und antwortete: "Ja, das tue ich. Ich habe es eilig, denn Prinzessin Niyasa mag es nicht, wenn man sie warten lässt." Sie drehte sich zu Anastasia um, die keine Anstalten machte, mit ihr zu sprechen. Sie presste die Lippen zusammen und sagte: "Pass auf dich auf, Anna. Wenn es im Zimmer der Prinzessin etwas zu putzen gibt, werde ich sicher nach dir fragen." Mit diesen Worten verließ sie den Korridor.

Als Theresa Anastasias unfreundliches Verhalten gegenüber Charlotte bemerkte, sagte sie: "Ich dachte, du wärst nicht verärgert über Charlottes Beförderung..."

Anastasia antwortete: "Es ist nicht ihre Beförderung, die mich aufregt. Es sind die Mittel, mit denen sie sich selbst befördert hat."

Theresa runzelte die Stirn und fragte: "Was meinst du damit?"

"Sie hat etwas gestohlen, das mir gehört. Ehrlich gesagt, macht mich nicht die Tatsache traurig, dass sie es als Gelegenheit genutzt hat, sondern dass sie mein Vertrauen gebrochen hat", sagte Anastasia und hörte auf, den Boden zu wischen, während sie den Holzstab in ihren Händen hielt. "Was sie genommen hat ... das war mir sehr wichtig. Aber wenn sie gefragt hätte, hätte ich es ihr gerne gegeben."

Theresas Augenbrauen zogen sich zusammen, und sie fragte: "Was hat sie gestohlen, Anna?"

Anastasia schüttelte den Kopf: "Das spielt keine Rolle," sagte sie, bevor sie weiter den Boden wischte. "In ein paar Tagen wird es keine Rolle mehr spielen." Denn sie war sich sicher, dass sie diesem Ort entkommen würde, an dem die Menschen versuchten, aufzusteigen, indem sie auf anderen herumtrampelten. Sobald sie und ihre Schwester diesen Ort verließen, würden all diese Dinge nur noch eine Erinnerung sein.

Weit entfernt von dem Ort, den einfache Dienstmädchen wie Anastasia oder Theresa nicht betreten durften, im Herzen des königlichen Palastes, machte sich Charlotte auf den Weg zum inneren Garten, wo Prinzessin Niyasa war.

Prinzessin Niyasa war die zweite Tochter von König William Blackthorn. Ihre Mutter war die erste Konkubine des Königs, Lady Maya, und sie war die Schwester von Prinz Maxwell. Die Prinzessin hatte ihr braunes Haar heruntergelassen und trug eine juwelenbesetzte Brosche an der linken Seite ihres Kopfes. Obwohl sie erst neunzehn Jahre alt war, wirkte ihre Arroganz, als hätte sie sie schon viel zu lange angesammelt.

"Das talentierte Dienstmädchen ist da," bemerkte Prinzessin Niyasa, als sie Charlotte den Garten betreten sah. Dann sagte sie: "Was stehst du denn so weit weg? Komm näher."

Prinzessin Niyasa bemerkte: "Deine Skizzen sind anders als alles, was ich bisher gesehen habe. Ich habe sie im Salon aufhängen lassen, damit sich jeder an ihrem Anblick erfreuen kann." Für die Prinzessin war der Besitz von talentierten Dienstmädchen nichts anderes als der Besitz von schönen Juwelen oder Kleidern. Sie waren ein Accessoire, mit dem sie vor anderen angeben konnte. Ihre blauen Augen starrten das schlichte Dienstmädchen an und fragten: "Wie hast du sie noch einmal gezeichnet?"

Charlotte verbeugte sich tief und antwortete: "Ich zeichne sie so, wie sie mir im Traum erscheinen, Prinzessin."

"So begabt. Ich habe gehört, dass du in letzter Zeit von nichts geträumt hast, weshalb du nicht in der Lage warst, neue zu zeichnen?" fragte die Prinzessin. Dabei kreuzte sie ihre Beine auf dem Stuhl im Garten.

"Das stimmt, Prinzessin. Sobald ich wieder einen guten Traum habe, werde ich ihn Ihnen gerne zeigen. Es freut mich zu hören, dass die Prinzessin mit meinen Zeichnungen zufrieden ist", antwortete Charlotte und verbeugte sich weiter, während sie hoffte, dass sie irgendwann so zeichnen könnte wie Anastasia.

"Deswegen wirst du von nun an mein Dienstmädchen sein", sagte Prinzessin Niyasa und lächelte.

Und während Charlotte die vorübergehenden Vorteile und das Lob der Prinzessin erntete, ging Anastasia auf der anderen Seite des Palastes mit einem Wassereimer in der einen und einem Mopp in der anderen Hand durch einen der oberen Stockwerke. Sie ging durch den Korridor, durch den der Wind wehte, denn es gab keine Wände oder Fenster, sondern nur Säulen nach einem langen Geländer.

Anastasia war hierher gekommen, um ihren Kopf frei zu bekommen. Auch wenn sie sich sagte, dass es keine Rolle spielte, war sie immer noch traurig über das, was Charlotte getan hatte.

Sie stellte den Eimer auf den Boden, lehnte sich gegen das Geländer und beobachtete das weite Reich jenseits der hohen Mauern und der Wüste. Eine Minute später hörte sie ein metallisches Klappern. Sie zog die Augenbrauen hoch und fragte sich, was das war. Langsam näherte sie sich dem Ende der Mauer, als ihre Augen sich beim Anblick eines Diebes weiteten!

Der Dieb schien gerade über die Mauer geklettert zu sein und zog nun das Seil hoch, mit dem er hochgeklettert war. Die Person trug einen schwarzen Mantel und eine Kapuze, die seinen Kopf bedeckte.

"Oof!" Der Dieb keuchte und legte seine Hand auf den Rücken, um sie zu strecken. "Warum sind hier so viele Wachen?"

Anastasia spitzte die Lippen, bereit, nach den Wachen zu rufen, aber im selben Moment drehte sich der Dieb um, und sie konnte sein Gesicht sehen.

'War das Juan?!' Anastasia blieb der Mund offen stehen. War er hier, um zu stehlen?

Aber sie hatte nicht genug Zeit zum Nachdenken, denn als Juan sich mit der Hand durch die Haare fuhr, begann sich sein Aussehen zu verändern. Ihr lief die Kehle aus, als sie sah, dass Juan seine ursprüngliche Gestalt annahm, und zwar die von Prinz Aiden.

Schnell versteckte sich Anastasia weiter hinter der Wand, während sie ihr Herz laut in den Ohren klopfen spürte. Der junge Mann, den sie zweimal auf dem Basar getroffen hatte, war der Prinz! Für einen kurzen Moment war sie froh, dass sie nicht den nächstbesten Gegenstand genommen hatte, um ihm den Kopf einzuschlagen, wie sie es bei dem betrunkenen Mann auf dem Basar getan hatte.

Sie spähte hinter der Mauer hervor und beobachtete, wie Prinz Aiden seinen schwarzen Mantel ablegte und seine Kleidung in Ordnung brachte. Als er das Seil und den Anker aufrollte, hörte sie ihn pfeifen,

"Heute war ein guter Tag. Zweimal den Palast zu verlassen."

Anastasia hatte gehört, dass die Mitglieder der Blackthorn-Familie unterschiedliche Fähigkeiten besaßen, aber niemand wusste, welche Fähigkeiten jeder von ihnen hatte. Aber König Williams Kräfte waren für niemanden innerhalb oder außerhalb des Palastes ein Geheimnis. Es hieß, er könne die Gedanken der Menschen lesen und sie in seiner Gegenwart verwundbar machen.

Hatte sie gerade zugestimmt, den Prinzen zu treffen und sich von ihm ein Kamel besorgen zu lassen? Anastasia spürte, wie ihr der Kopf weh tat.

Früher hatte sie es mit einem einfachen Stadtbewohner zu tun gehabt, und sie glaubte, dass ihr Plan risikofrei wäre. Aber jetzt... klopfte der Ärger an ihre Tür. Und die wichtigste Frage war: Wusste er, dass sie eine Dienerin dieses Palastes war? Sie würde es erst erfahren, wenn sie sich das nächste Mal begegneten, dachte sie.

Sie betete, dass sie sich nicht treffen würden!

Als sie hörte, wie Prinz Aiden sich auf den Weg zu ihr machte, blickte Anastasia hin und her, bevor sie so schnell wie möglich rannte, damit er sie nicht sah. Sie hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, denn sie konnte die Schritte, die nicht weit hinter ihr waren, nicht loswerden.

Als Anastasia in das untere Stockwerk kam, bemerkte sie nicht, dass sie einen Korridor gewählt hatte, der sie in das Herz des inneren Palastes führte. Als Prinz Aidens Schritte ihren folgten, drehte sie den Türgriff neben sich und betrat den Raum.

Anastasia schloss die Tür, ihr Herz klopfte laut, und sie wartete einen Moment. Als sie das Gefühl hatte, es sei in Ordnung, wieder hinauszugehen, öffnete sie die Tür, um das Licht hineinströmen zu lassen, aber nur für einen kurzen Moment.

Denn in dem Moment, als sie die Tür öffnete, erschien gleichzeitig eine Hand von hinten und drückte die Tür zu. Direkt hinter ihr hörte sie eine heisere Männerstimme sprechen,

"Du hast schon viel Mut, hier einfach ohne Erlaubnis in den Raum zu kommen und zu denken, dass du gehen kannst, wie es dir gefällt."