Kapitel 6

Draußen erwarteten sie als einziges die Musiker.

Sie schenkten Alina einen kurzen Blick, ohne auf ihr zerstörtes Kleid einzugehen, oder wie blutbefleckt ihre zarter Körper erschien. Ein Monster. Der Hölle entstiegen, in Gestalt eines Engels.

Blutiger Engel, da besaß sie wahrlich einen passenden Namen.

Einzig der Streicher Soto wagte etwas zu sagen.

„Wenn ihr so weiter macht, Alina, dann werdet ihr bald niemanden haben, der euren Tanz sehen will", prophezeite der Mann fürsorglich wie ein Vater.

Das Mädchen musste sich eingestehen, das sich ihre beiden Arbeiten nicht miteinander vereinbaren ließen. Eigentlich wusste sie das schon lange. Ihre Leidenschaft am Tanz wollte sie aber nicht zugunsten der Verpflichtung ihrem Vater gegenüber aufgeben. Genau, wie sie sich nicht dem Auftrag als Kopfgeldjägerin verweigern konnte.

Es war eine elende Zwickmühle, in der sie sich befand.

Eine andere Gesellschaft vielleicht, die sie bewachte. Auch dass wurde ihr bisher verwehrt.

„Der nächste Auftritt verläuft friedlicher", versprach sie dem Musiker. „Letztens wurde ich wegen einer Feierlichkeit angefragt. Ist es mehr nach eurem Geschmack?"

Ihr Lächeln war so süß wie Honig, dem keiner der Männer normalerweise widerstehen konnte. Nur so, mit dem zerschnittenen Kleid und dem blutbefleckten Körper kam es nicht sehr vorteilhaft an.

„Wenn ihr Ero sucht, der sonnt sich dort vorne." Soto deutete mit einem Nicken auf eine Anhöhe.

Nicht einmal weit entfernt, sodass man den Jungen gut erkennen konnte, der dort an eine Linde gelehnt saß.

Sein braunes Haar hob sich eine Nuance heller von der Rinde ab. Es war lang genug, dass es beim Brausen des Windes mit wogte, und lud manche Mädchenhand ein, hindurchzufahren. Jedenfalls begrüßten ihn viele der jungen Mädchen so, die er kannte oder kennenlernte. Alina dagegen fand es albern, wenn diese Hühner den jungen Adeligen umschwärmten.

Das Vermögen seiner Familie erschien ihnen eine schöne Zugabe zu dem hübschen Jungen. Dabei kleidete er sich seit Jahren kaum seinem Stand angemessen.

Genau wie jetzt, in der von Arbeiten zerschlissenen Hose und dem langen, vorne zu gebundenen Hemd, schmutzig vom Staub ihrer Reise.

Die hübschen, ebenfalls braunen Augen hielt er geschlossen.

Eigentlich hätte er ihre Schreie hören müssen.

„Mistkerl!", fluchte Alina leise.

Soto bekam keine Aufmerksamkeit, dafür gesellte der Musiker sich zu seinem Kameraden, ahnend, was jetzt für ein Spektakel beginnen würde. So saß diese Bande zusammen, während sie leise über den Verlauf spekulierten.

Alina ärgerte sich dagegen mit anderen Problemen herum. Eben ihr unnützer Kamerad und das Kleid, das nur noch von ihren Händen gehalten wurde. So stapfte sie auf den Freund zu.

„Was muss passieren, damit du mir einmal hilfst, wenn ich dich brauche?", prasselte ein kleines Gewitter auf den Jungen ein.

Er schwieg. Auf seinen Lippen erstrahlte ein wohliges Lächeln, über dem schönen Sonnenschein, der sein Gesicht wärmte und bräunte. Wenn er meinte, das weiter genießen zu können, hatte er nicht mit der Freundin gerechnet.

Alina sprach erst weiter, nachdem sie sich vor ihn gestellt hatte und sich somit ihr Schatten auf ihn legte.

„Ich hätte deine Hilfe wirklich gebrauchen können. Es waren 25 Männer, gegen die ich mich behaupten musste, darunter auch ein paar gut ausgebildete Schwertkämpfer. Besonders einer hat mich in Schach gehalten."

Dass eben dieser die meisten der Räuber getötet hatte, bevor er sich mit Alina befasste, verschwieg sie ihrem Freund.

„Du lebst noch, also wieso sollte ich dir helfen?", sagte er kühl, begleitet von einem langen Gähnen. Langsam öffnete sich erst ein Auge. „Wobei, wenn ich es mir recht bedenke, scheine ich einiges verpasst zu haben." Sein zweites Auge öffnete sich ebenfalls. Interessiert legte der Junge seinen Kopf schief.

„Hätte er wirklich vorgehabt mich zu töten, würde deine liebste Alina jetzt nicht vor die stehen", rutschte es ihr heraus. Als ob es nicht schon ersichtlich genug wurde, dass der Versuch des Gegners war, sie unbekleidet vor sich zu haben.

Sie zupfte mit ihrer rechten Hand an einem der zerschnittenen Ärmel. Die linke war weiter damit beschäftigt, ihr Kleid oben zu behalten. Vielleicht hätte sie sich vorher etwas anderes anziehen sollen.

So vor ihm zu stehen, empfand das Mädchen als eine sehr dumme Idee.

„Welch ein schöner Tod!", rief Ero belustigt. „Es ist nicht so, dass ich mir ein ebensolch frühes Dahinscheiden wünsche. Aber davor solch ein Anblick und man geht allem Nachfolgenden gerne entgegen."

Alinas Wangen glühten.

Wirklich eine ganz dumme Idee, in ihrer Wut so zu ihm zu gehen.

„Kannst du mir erklären, wieso ausgerechnet ich immer die erniedrigten Arbeiten in unserer Partnerschaft bekomme, während du dich irgendwo ausruhst?", bellte sie ihm über die Scham hinweg an.

Er sagte noch nichts, sondern richtete sich erst auf. Nachdem er die Erde von seiner Hose geklopft hatte, stellte Ero sich herausfordernd vor der Freundin auf. Dabei offenbarte er ein Grinsen, das seine hübschen Züge fast entstellte.

„Das kann ich dir verraten, holde Schöne!", meinte Ero. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte er ungeniert an dem Kleid des Mädchens. „Das kommt daher, dass ich nicht so wundervoll in einem Kleid aussehe wie du."

Bei jedem anderen Mädchen hätte er sich nicht so forsch vorgewagt. Bei ihr war es etwas anderes. Beide wuchsen seit ihrer Kindheit zusammen auf. Erst in Konkurrenz und Feindschaft, jetzt zu Kameradschaft verdammt.

Einen Augenblick verschwendete Alina damit, sich ein Bild auszumalen.

Der hübsche Junge, mit dem schön gestalteten Körperbau und gut geformten Muskeln, besonders im Bereich von Armen, Brust und Bauch. Beim Handhaben seines breiten Beidhänders benötigte Ero Kraft.

In diesem Bild trug er nicht die gewöhnlichen Sachen, sondern eines von ihren Kleidern.

Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein Schmunzeln auf ihre Lippen schlich. Aber es brachte sie auch auf eine Idee.

Es bedurfte nur eines geschickten Trittes, den Jungen zu Fall zu bringen. Sodass er ungeschickt zurück zum Boden fiel. Ehe er aufstand, hinderte sie ihn schon mit einem Tritt ihres nackten Fußes auf den Bauch daran.

„Ich schlage vor, du probierst es einfach aus!", war sie es jetzt, die ihn herausfordernd ansah. „In der nächsten Zeit trägst du einen ganzen Tag lang eines meiner Kleider!" Sie lächelte. „Wenn du nicht möchtest, dass meine Wut als Furie Beldors liebsten Sohn dahin streckt."

Sie sah ihm an, dass er darum bitten wollte, sie davor auch ohne Kleider sehen zu dürfen. Dann aber entschied er sich um.

Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf zu einer entspannten Liegeposition.

„Tu ruhig noch einen Schritt näher treten, schönste aller Schönen. Oder hebe dein Bein weiter an. Dann offenbart sich mir wirklich ein Anblick, für den ich sterben könnte."

Das alles sagte er in einem genießerischen Gurren.

Ihre Wangen tauchten rot ein vor Scham. Seinem Wunsch kam sie gerne nach.

Ihr schlankes Bein hob sich. Im Feuer der Wut zog sie es so schnell herunter, dass er nicht ausweichen konnte. Unter der Wucht des Trittes entwich alle Luft aus den Lungen des Jungen.

Ero hielt jetzt seine Miene nicht aufrecht, sondern rollte unter Schmerzen auf den Bauch. Aber das hatte er verdient, stand für Alina fest.

„Ich habe doch nur Spaß gemacht", entrüstete er sich in einem Keuchen.

Alina blieb dafür ganz ernst.

„Ich nicht!" Sie wandte sich um. „Du wirst hübsch aussehen! Ich besitze sicher eine passende Perücke."

„Alina!", kreischte er von seiner Position am Boden aus auf. „Bitte tu mir das nicht an. Bedenke doch, was für eine Demütigung das ist, so die Jungs trainieren zu müssen."

Sie hörte ihn nicht, oder eher wollte es nicht. Ihre Schritte waren schon längst in Richtung des Räuberlagers gerichtet. Aber wer weiß. Vielleicht konnte es für ihn auch etwas Heilsames haben und er schenkte ihrer danach mehr Anerkennung.

 ***

Bevor Alina sich daran machte, zusammen mit Ero das Räuberlager zu plündern, wollte sie sich zuerst andere Sachen anziehen. Kam sie so in die Schule zurück, würden dort die Jungs einen netten Anblick bekommen.

Vorhin zog sie sich etwas abseits des Lagers um. Weit entfernt von den lüsternen Blicken der Männer, hinter einem dichten Busch und weit herabhängenden Kiefernzweigen.

Genau dort fand sie ihre Sachen wieder. Leider nicht nur die.

Auch eine Wildziege, die zu allem Überfluss Gefallen an ihrem Kleid gefunden hatte. Davor musste sie den Proviant geplündert haben.

„Gefräßiges Vieh!"

Alina funkelte das Tier zornig an.

Die Ziege hob ihren Kopf. Zuerst wirkte es friedlich. Alina traute sich sogar einen Schritt näher.

„Alles ist gut", sagte sie beschwichtigend. „Ich will nur mein Kleid, mehr nicht!"

Ihre Hand näherte sich dem Kleid, an dem das Tier gerade nagte. Über und über war es mit Sabber bedeckt. Das Mädchen fragte sich, wieso sie keines der Schwerter mitgenommen hatte, oder ihre Dolche. Dann gäbe es später einen leckeren Braten für sich und ihren Vater.

Das Tier hob den Kopf und schaute auf. Nicht im Willen den Stoff aus seinem Mund freizugeben. Unruhig, mit drohend erhobenen Hörnern stand es da.

Hatte die Wildziege ihren Gedanken gelauscht? Für einen Moment zeigte sich Alina davon überzeugt.

Dieses garstige Tier scharrte unruhig mit seinem Huf auf dem Boden vor sich. Und warf das Kleid ein Stück nach hinten.

Es bedürft wenige Zentimeter und sie hätte ihr Kleid berühren können.

Die Wildziege senkte den Kopf. Ein Sprung nach vorne, dem Alina gerade so ausweichen konnte, dann rannte das Tier auch schon durch das Gebüsch davon. Zurück blieben ein paar Fetzen ihres Kleides. Nichts weiter.

Das Mädchen sank bedrückt zu Boden.

Ihr Proviant war fort, genau wie ihr Ersatzkleid. Und Ero würde wieder sie für alles in Verantwortung ziehen.

Eigentlich war sie es auch. Hätte sie ihre Sachen erhöht gelegt, oder ins Lager wäre das nicht passiert. So musste sie wohl jetzt die Konsequenz ziehen.

Den Räubern ein paar ihrer Sachen zu stehlen, das hatte sie nicht vor. Da ging sie lieber hoch erhobenen Hauptes nackt zur Schule zurück.

 ***

Die Ausbeute war wirklich schmal. Ein paar Goldmünzen, nicht mal genug, um ihren vollen Auftritt zu bezahlen.

Von den Räubern hatte keiner vor sie zu entlohnen. Es schmälerte jedes Mitleid, das sie mit diesen Männern haben konnte. Wenn es denn eines gäbe. Mit ihrer Arbeit bewahrte sie viele andere vor einem schrecklichen Ende. Potenzielle Raubopfer.

Neben dem Gold nahmen sie 22 Schwerter an sich. Ein Teil davon konnten die Jungs unter sich aufteilen. Was nicht gebraucht wurde, nahm ihnen sicher ein Händler ab. Genau wie das Schwert von Mos und dem Rubin besetzten. Solch exquisite Stücke fanden sicher schnell einen Käufer in der Schicht Adeliger.

Über die 13 verwahrlosten Pferde wollte Alina kaum reden. Kaputt geritten von den Männern, erschienen sie kaum mehr wert als einen vollen Magen.

Ausgerechnet für diese magere Beute opferte sie nun ihr letztes, schönes Kleid.

Dies war wahrlich nicht ihr Tag!