Kapitel 11

Sein Griff um Alina zeugte von ungewöhnlicher Stärke, im Willen sie nicht gehen zu lassen.

„Pass auf dich auf, mein Kind", sagte er mit schwacher Stimme.

War es möglich? Hatte Marno die letzte Nacht geweint, dass sich sein Herz jetzt so schwer fühlte? Er war kein Mann, der sich mit Gefühlen aufhielt. Jedenfalls zeigte er diese nicht einmal seiner Tochter gegenüber. Marno hatte sie als sein Kind angenommen aber so streng erzogen wie jeden seiner Schüler.

Ein Schlag bei Ungehorsam war keine Seltenheit und nur manches Mal setzte er sich zu dem Kind, wann immer es weinte.

Heute vertrieb nicht einmal ihr zuversichtliches Lächeln die düsteren Wolken, von denen sein Herz verdeckt wurde.

„Ich will dich nicht jahrelang trainiert haben, um dich in einer Räuberhöhle zu verlieren", sagte der alte Mann. Ein Stöhnen verließ seine Kehle. „Wenn es sein muss, helfe ich dir dort unbeschadet hineinzukommen."

„Marno du wirst alt!", rief Alina und stieß sich aus seinem kräftigen Griff frei. Sie war ihm für all die Jahre dankbar, in denen er zu ihrer Familie wurde. Alina konnte frei behaupten ihn wie den Vater zu lieben, den sie nie kennenlernen durfte. Und dennoch gestand sie ihm dieses Gefühl nie.

War es jetzt ein Fehler?

Nein, Alina würde wiederkommen, damit sie es ihm sagen konnte, stand für sie fest.

„Wenn du denkst, mit uns zu kommen, um das Schwert noch einmal im Kampf zu schwingen, muss ich dich enttäuschen. Du bist allen ein guter Lehrer, wirst aber kaum noch gegen eine Bande junger Räuber bestehen können."

„Alina!", rief er sie mit all seiner Härte zur Ordnung. „Scherz nicht! Wir stecken dieses Mal in wirklichen Schwierigkeiten!"

Ehe sie sich der von Gefühlen beherrschten Stimme ihres Vaters bewusst wurde, schloss dieser sie erneut in seine Arme.

„Du weißt, wie selten ich so etwas sage", begann er. „Aber du sollst wissen, dass du mir das teuerste im Leben bist. Ich habe nie bereut, dich aufgenommen zu haben."

Selten traf es genau, wo es das erste Mal war, dass er solche Worte an seine Tochter richtet.

„Riskier nicht unnötig dein Leben. Solltest du in Gefahr sein, bitte zu Morlo vorgelassen zu werden und nenne mich als deinen Vater. Ich kann dir nicht sagen wieso, aber wenn dieser Hund noch etwas Ehre im Leib hat, tut er dir nichts an."

Marno löste sich von ihr. Nicht um sein Kind einfach gehen zu lassen. Seine Hand tätschelte behutsam ihre Wange.

„Ich hoffe dein hübsches Gesicht noch einmal wieder sehen zu können", sagte er. „Wenn es auch nur sei, um dich am Traualtar zu überreichen."

Es blieb unausgesprochen, welchem Jungen er die Ehre gönnte, sie zur Frau zu bekommen, obwohl es schwer über ihnen hing.

Über Alinas Wangen rollten dicke Tränen.

Verdammt sie wollte nicht vor ihm weinen, immerhin war Alina ein großes Mädchen, kein kleines Kind mehr. Sie konnte noch nicht einmal behaupten, dass es Angst war, die an ihr zog.

„Beldor weiß immer Rat", versuchte sie ihrem Vater Hoffnung zu schenken. „Es wird uns niemand verdenken, diesen Weg zu wählen und vielleicht kann er uns weiterhelfen. Es gibt niemanden, der die Geschichte der Amazonen besser kennt als er, oder einen besseren Kontakt zu den Königen hat."

„Der Henker von Ylora", nannte Marno den Ruf seines alten Freundes mit einem Schnauben. „Ich hoffe, Ero kann einmal in seinem Leben den Stolz vergessen. Der Junge verteidigt den Vater, wann immer er es für nötig hält." Seine Stimme wurde eindringlich. „Solle jemand erfahren, wer dieser Junge ist, kann euch niemand mehr helfen."

Mit dem Handrücken wischte sich Alina die Tränen weg. Ihr Vater nahm kein Blatt vor den Mund und räumte ihnen Chancen ein, die schlimmer nicht sein könnten.

„Wir werden es schaffen!", sagte sie streng zu ihrem Vater und auch sich selbst. Ihr Herz flatterte vor Aufregung der kommenden Herausforderung. Es übertrug sich auf ihren Magen und endete in einem leichten Zittern, was von niemand anderes als ihr würde bemerkt werden. „Es gibt doch noch so viel, was ich dir nie erzählen konnte."

Noch einmal strichen seine Finger über ihre Wange. Ein Lächeln huschte über den breiten Mund des Mannes.

„Mich würde am ehesten interessieren, wann ich meine süße Tochter am Traualtar sehe."

Ein altes Lied. Beide Väter drängten darauf, die Kinder mögen sich zu einer Liebe bekennen. Und selbst wenn es der einzige Weg wäre, die Schule zu retten, konnte Alina ihm nicht nachgeben.

Ero mochte ein Kindheitsfreund sein, aber für sie zählten nur ein einziger Grund zu heiraten. Liebe. Wenigstens das hatte sie mit ihrer Mutter gemeinsam. Sie würde eher sterben als einer Heirat aus Vernunft oder Zwang zuzustimmen.

„Sobald ihr zurück seid, sollten wir wirklich reden. Es gibt vieles, dass auch du nicht aus dem Leben deines Vaters kennst."

„Das ist typisch!", ertönte die Stimme eines Jungen von den Ställen her. Ero lief mit großen Schritten auf sie zu, in seinen Händen die Zügel beider Pferde.

Seine Falira war ein edles Reitpferd. Mit eleganten Bewegungen und ihrem Herren weit überragenden Kopf folgte sie ihm einen halben Schritt hinterher. Die alte Belena tat sich dagegen schwer, zu folgen.

Ihre besten Jahre waren vorbei und Alina hätte ihr liebend gerne gegönnt auf der Weide zu bleiben, statt vor dem Planwagen gespannt zu stehen. Die Stute legte ihr ganzes Gewicht ins Geschirr, um die Räder in dem von dem Jungen vorgegebenen Tempo vorwärts zu bewegen.

Neben Verpflegung und zwei unwilligen Gefangenen wurde der Wagen mit einem kleinen Sortiment an Waffen beladen, die beide auf ihrer Reise verkaufen konnten.

„Ich muss schuften, während ihr euch in einem Plausch unterhaltet." Ein letzter Zug an Belenas Zügeln, worauf die Stute ein Schnauben durch ihre Nüstern blies, dann fand sein Weg ein Ende. „Bedenkt die Dame, wann wir in unser beider Verderben starten wollten."

Ero konnte es nicht lassen und Alina beachtete ihn nicht. Sie eilte an dem Jungen vorbei zu ihrer Stute. Mit flacher Hand fuhr sie dem treuen Tier über die Stirn, bis zu den Nüstern. Einzig durch die Trense wurde die Liebkosung gestört.

„Lehn den Auftrag einfach ab!", forderte der junge Adelige seine Freundin auf, ohne sich der Gefahr bewusst zu werden.

Immerhin stammte er aus einer hoch stehenden adeligen Familie. Er mochte sich gerne unter die Bauern gesellen, doch musste er nicht die Folgen tragen, sollte sich jemand dem Befehl eines anderen Adeligen verweigern.

„Was ist, wenn sie ihre Drohung wahr macht, die Schule anzugreifen?", wollte Alina wissen. „Die Schüler sind gut, gegen ein Heer kommen sie aber nie an."

„Das kann sie nicht!", zeigte sich Ero fest überzeugt. „Nerre ist nur eine Kommandantin. Sie kann sich nicht gegen den Befehl eines Königs richten. Besonders wenn es der des Landes Miro ist."

Gram breitete sich in ihr aus, der nicht einmal von der Anwesenheit ihrer gehorsamen Stute vertrieben werden konnte.

„Nerre wird sicher einen Späher ausschicken, der unsere Bewegungen im Auge behält", sagte sie. „Sollten wir etwas versuchen, ist der Befehl zum Angriff schneller gegeben, als dass einer der Könige sich für uns einsetzen kann." Wieder flossen Tränen über ihre Wangen. „Ich habe in dieser Welt nichts mehr außer dieser Schule und Marno. Ich bringe nichts von beiden in Gefahr."

„Ist dir dein eigenes Leben denn völlig egal?" Er war aufgebracht. Wütend sogar. Besonders da er an das Schicksal des eigenen Bruders dachte. „Morlos Bande ist gefährlich. Sie verschonen keine Tänzerin und ich will gar nicht daran denken, was für ein Geschenk ich ihnen wäre."

„Es wird klappen", zeigte sich Alina zuversichtlich. „Ich finde einen Weg, uns sicher dort hinein- und hinauszubringen."

Ero legte ihr die Zügel des Schimmels in Händen, dann stieg er selbst in den Sattel seiner Stute.

„Das will ich sehen!", forderte er Alina mit schroffer Stimme auf. Ein einziger Befehl, schon sprang das Pferd unter ihm nach vorne dem Ausgang der Schule entgegen.

Er brauchte Abstand von ihr und diesem verrückten Vorhaben.

Alina setzte sich auf den Kutschbock. Mit langsameren Schritten folge ihre Stute ihm zu einem womöglich letzten gemeinsamen Ritt. Eine Reise mit ungewissem Ende.