Mandarine Seelenstein

Tania riss die Tür einen Spalt auf und spähte hinaus. Sie warf einen letzten Blick auf den Mann und kicherte, als sie sah, wie seine Maske locker um seinen Hals gewickelt war. Sie schloss die Tür hinter sich und trat ins Freie.

Die wenigen Laternen, die den Korridor beleuchteten, waren erloschen, so dass nur noch ein schwaches Licht den Flur erhellte. Sie wartete auf ein Geräusch, irgendetwas, das sie warnen könnte, aber sie hörte nichts - nur das rhythmische Pochen ihres panischen Atems. Sie blickte nach links und rechts, und als sie sah, dass sie allein war, huschte sie den Gang hinunter. An seinem Ende entdeckte sie eine tiefe Treppe, die nach unten führte. Ein Gefühl der Vorahnung überkam sie, und eine Gänsehaut kroch über ihr Fleisch. Sie wollte ins Schlafzimmer zurückkehren, tat es aber nicht. Wie konnte sie ein solches Risiko mit jemandem eingehen, den sie nicht kannte? Was, wenn die Wachen sie erwischten? Was, wenn der König sie erwischte? Immerhin war sie eine Spionin aus dem Kloster - einem Ort, der in allen Königreichen als heilig galt. Der Ort, an den die Werwolfkönige kamen, um ihre Gebete und Opfer darzubringen. Wenn der König erfuhr, dass Menkar sie geschickt hatte, würde der Name des Klosters in Schutt und Asche gelegt werden. Doch ein Gedanke beunruhigte sie. Was, wenn Menkar leugnete, wer sie war?

Sie atmete scharf aus und floh dann die Treppe hinunter. Sie führte sie zu einem Treppenabsatz vor einer dicken Holztür mit kunstvollen Schnitzereien darüber. Sie stand einen Spalt offen, und sie spürte eine warme Brise auf ihrem Körper. Wie Petra gesagt hatte, öffnete sie die Tür und fand einen Garten vor, der von hohen Eichen und Pappeln umgeben war. Sie suchte den Garten nach einem Ausgang ab - vielleicht ein Tor oder sogar eine Lücke in den Hecken, die die Gartenmauern säumten -, aber außer den dichten Bäumen konnte sie nichts anderes sehen. Ihr einziger Weg nach draußen führte durch den dichten Wald, der vor ihr lag.

Tania flitzte durch den Garten auf das Dickicht zu, ihre Füße fielen auf weiches, gepolstertes Gras. Sie musste ihren Betreuer finden. Wenn sie das nicht tat, würde sie Cetus niemals erreichen können. Sie kannte den Weg nicht. Es war das erste Mal seit fast zehn Jahren, dass sie aus dem Kloster herausgelassen wurde.

Ihr Atem schnitt wie ein Messer, als sie durch das Wäldchen rannte und den kahlen Wald so schnell betrat, wie ihre nackten Füße sie tragen konnten. Zweige knackten unter ihr, und sie zuckte bei dem Geräusch zusammen. Sie fürchtete, dass die Bluthunde hinter ihr her sein würden, oder, schlimmer noch, die Palastwachen, und hasste es jetzt mehr denn je, dass sie sich nicht in ihre Wolfsgestalt verwandeln konnte.

Die meisten ihrer Art verwandelten sich zum ersten Mal, als sie achtzehn Jahre alt wurden, aber einige hatten sich auch schon früher verwandelt. Im Kloster konnten die Priester herausfinden, wer sich früh verwandeln würde und wer nicht. Dementsprechend wiesen sie den Leuten die Aufgaben zu. Diejenigen, die nie wechselten oder die ihre Wölfe verloren hatten, wurden versklavt. Sie arbeiteten in den Küchen, wuschen die Wäsche, reinigten die Latrinen und schrubbten die Böden.

Diejenigen, die sich verwandeln konnten, wurden dagegen zu Kriegern und Schriftgelehrten und bekamen weitaus bessere Positionen und Privilegien. Sie wurden bedient... königlich... und sie hatten die Autorität, die Nicht-Schichtler herabzusetzen und zu schlagen.

Der Priester, dem sie diente, Menkar, war der Hohepriester, der mächtigste Priester des Klosters Cetus. Er bestand darauf, dass sie sich niemals in einen Wolf verwandeln würde, und so wurde sie zur Sklavin gemacht. Er hatte sie für eine Handvoll Münzen von ihrer Großmutter in das Kloster gebracht.

Sie rannte so schnell sie konnte und tauchte tief in den Wald ein. Sie bog nach rechts ab, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden, aber alles, was sie sah, waren Bäume, die immer dichter wurden. Tief hängende Äste zerrten an ihrem Kleid wie verzweifelte Hände, aber sie konnte nicht langsamer werden. Sie wagte es nicht, langsamer zu werden. Nicht, wenn sie vor dem Morgengrauen aus dem Palastgelände entkommen musste.

Sie wanderte zwischen dicken und schlanken Bäumen hindurch, ihre Füße wundgescheuert vom Knacken der Zweige. Ihr weißes Kleid verfing sich immer wieder in dornigen Ästen. Hastig riss sie daran, es zerriss. Doch das war nebensächlich. Sie ließ sich dadurch nicht aufhalten.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie nur eins gewollt: Freiheit von Menkar. Doch sie scheiterte.

Erinnerungen überfluteten sie. Als ihre Eltern starben, war sie fünf Jahre alt, und ihr tragischer Tod blieb ein Mysterium. Die Dorfbewohner übergaben sie ihrer Großmutter, die ihre Abende in der Taverne verbrachte, bettelnd um Alkohol. Ihre Großmutter verabscheute Tania, täglich schimpfte und schlug sie sie. Sie wollte sich nicht um einen weiteren Mund kümmern, wenn sie bereits kaum für sich selbst sorgen konnte. Und nicht nur das – sie verachtete Tania, denn ihrer Meinung nach war sie nicht einmal wirklich ihre Enkelin.

Die kleine Tania verstand nie die Verwicklungen des Lebens, doch fürchtete sie sich vor dem ernsten Priester mit der Adlernase, der sie von Kopf bis Fuß musterte und für eine Handvoll Münzen – die ihre Großmutter wohl in drei Tagen vertrank – von dieser kaufte.

Mit sieben Jahren wurde Tania von einem Buckligen in einer Kutsche zum Kloster gefahren. Menkar machte sie mit seiner Magie zu seiner Sklavin, während das kleine Mädchen schrie, als er das Ritual vollzog. Er entnahm ein Stück ihrer Seele und sammelte es in dem mandarinenfarbenen Seelenstein, den er um den Hals trug, um sicherzustellen, dass sie dem Cetus-Kloster diente – bis Menkar sie weiterreichen würde. Doch er wollte nicht. Er begehrte sie als seine persönliche Dienerin, und sein Besitzanspruch war erbarmungslos.

Als Tania heranwuchs, blieb ihr innerer Wolf stumm. Sie wollte weder lesen noch schreiben, sondern verrichtete die niedrigen Arbeiten im Kloster, stets beobachtet von ihrem buckligen Aufseher, von dem sie später erfuhr, dass er Menkars Spion war.

Nichts davon konnte Tania davon abhalten, das Lesen und Schreiben zu erlernen. Immer, wenn sie die Regale der Bibliothek wischte, stibitzte sie ein Buch und brachte es in ihr kleines, schäbiges Zimmer. Dort saß sie im flackernden Licht einer alten Öllampe, die sie aus dem Müll eines Schreibers entwendet hatte, zusammengekauert und versuchte, den Sinn der Worte zu erfassen.

Menkar bemerkte ihr Talent für alte Sprachen. Später gestattete er ihr das Lesen, allerdings erst nachdem sie ihre Pflichten erfüllt hatte.