Der Mundschwur

Bevor Tsuyoi aufwachte, erwachten Delia und Luke. Nun ja, es war ein wenig geschummelt, denn er ist ja eigentlich schon erwacht, aber wieder schlafen gegangen, weil Tosin nicht wusste, wie man sich zu benehmen hatte. Wie dem auch sei, sie waren als erstes wach. Deshalb rannten drei Ärzte ins Zimmer, um sie zu untersuchen. Das überwältigte Delia und Luke. Sie hatten den Kontakt zu Menschen schon lange nicht mehr aufgenommen. Sie hatten es auch schon lange nicht mehr nötig gehabt. Sie mussten nur die Befehle des Goemuls ausführen. Die Befehle waren jedoch nicht abwechslungsreich, denn sie mussten immer töten. Es war grausam, doch sie konnten es nicht kontrollieren. Dass sie den Befehlen blind gehorchen, war keine Entscheidung der Beiden, sondern die des Goemuls. Delia und Luke waren sozusagen die Sklaven des Goemuls. Zwei Körper mit einem Geist, der sie denken ließ, dass die Entscheidungen des Goemuls, die ihren sind. 

"Herr Luke, ich bin Ihre Ärztin und werde sie nun kontrollieren."

"O… Okay …", erwiderte er nervös. 

"Sie müssen nicht nervös sein. Folgen Sie einfach nur dem, was ich sage und alles wird gut. Ich muss Sie ja sowieso nur kontrollieren, damit wir uns sicher sein können , dass Sie noch immer unter dem Einfluss des Goemuls stehen."

Luke nickte nur vor Überforderung. 

Für Delia war das genau dasselbe. Sie hatte, genauso wie Luke, den Kontakt zu Menschen schon lange nicht mehr aufgenommen, weshalb sie nur zitterte. Sie bekam kein Wort raus, was den Ärzten ein wenig Sorge bereitete, doch sie taten es schließlich als Überreaktion ab und machten ungestört weiter. Im Nachhinein war es keine gute Idee, jedoch funktionierte es für alle und keiner wurde verletzt. 

"Frau Delia, ich werde sie nun untersuchen. Bitte machen Sie den Mund schön weit auf.", sagte der Arzt in ihren Mund blickend. "Ich werde sie nun nach anderen Symptomen überprüfen."

Der Arzt holte ein Stethoskop aus seiner Tasche, steckte sich die Ohroliven, verbunden mit dem Ohrbügel, in sein Ohr und hielt dann den Kopf an Delias Brust, um nach Unstimmigkeiten zu suchen. Er führte den Kopf umher, um die beiden Lungenflügel abzuhören. Glücklicherweise hörte er nichts Unnormales und führte seine Untersuchungen fort. 

"Wie fühlen Sie sich, Frau Delia?", bohrte der Arzt nach.

"Ähm … Mir geht es ganz gut. Ich bin ein bisschen müde, aber sonst ist alles okay."

Der Arzt nickte und erzeugte Töne, die seinem Nicken mehr Aussagekraft verliehen. 

Zwei von den drei Ärzten kontrollierten Delia und Luke. Der dritte Arzt war da, um Tsuyoi zu untersuchen, da sie dachten, dass auch er erwacht war. 

"Braucht einer von euch beiden meine Unterstützung?", seufzte der dritte Arzt. 

"Nein!"

"Nein!"

Wie in einem Chor, antworteten die beiden Ärzte. Daraufhin verschwand der dritte Arzt schnell. 

Nachdem die beiden Ärzte ihre Untersuchungen beendeten, verabschiedeten sie sich von Luke und Delia. Beide waren noch immer ein wenig aus dem Wind. Doch sie erholten sich recht schnell wieder und begannen ein Gespräch. 

"Luke, wie geht es dir? Was haben sie mit dir gemacht?", fragte Delia besorgt um seine Gesundheit. 

"Mir geht es prima … Ich habe nicht mit so einem Winde gerechnet. Ich bin das auch schon gar nicht mehr gewöhnt."

Delia kicherte kurz. Sie dachte, wie witzig das war, immerhin hatten sie beide dasselbe Gefühl gehabt. Dann stand sie auf. Mit leichten, aber doch schnellen Schritten lief sie zu Lukes Bett hinüber. Sie setzte sich hin.

"Warum glaubst du, haben sie Tsuyoi einfach hier mit uns beiden schlafen lassen? Wir sind doch immerhin Feinde."

Delia stellte da eine sehr wichtige Frage. Sie waren Feinde. Zumindest in Delias und Lukes Augen gab es keinen hinlänglich zureichenden Grund, der sie dazu bewegen könnte, Tsuyoi mit ihnen in einem Zimmer schlafen zu lassen. Sie taten es trotzdem.

"Findest du nicht, dass sie sich hier ein wenig leichtsinnig verhalten, Luke? Wir haben eben noch gegeneinander gekämpft und nun sollen sie uns schon vertrauen? Ich finde das ein wenig übertrieben. Auch wenn Rood uns liebt, sollte er seine Leute doch nicht solch einer Gefahr aussetzen."

Luke nickte kurz, während er Tsuyois schlafendes Gesicht blickte.

"Vielleicht ist es Leichtsinn. Ich weiß es jedoch selbst nicht, Delia, denn den Grund kennen nur Rood und die Anderen, die dafür verantwortlich sind. Ich bin mir nur im Klaren, dass ich diesem Tsuyoi nichts antun werde. Ich habe immerhin keinen Grund. Ich bin immerhin ein Gefangener und werde mich so lange wie einer benehmen."

Luke brachte seine Worte mit großem Selbstvertrauen über die Lippen. Niemand hätte verstehen können, dass Luke eigentlich lügt. In seinem Kopf war nämlich ein riesiges Chaos. 

Wieso will ich ihm eigentlich nichts antun? Weil ich Rood so sehr mag? Weil Delia ihn mag? Oder mag ich ihn vielleicht? Aber wieso? Ich habe mich doch dem Goemul versprochen. Ich wollte ihm doch mein Leben lang dienen, mich für ihn aufopfern. Egal wie hart die Hürde auch sein möge, ich wollte sie doch überwinden und mit erhobenem Haupt vor dem Goemul stehen, direkt an seiner Seite. Wo ist dieses Gefühl, diese Motivation nur hin? 

Luke hatte von dem heutigen Tage an etwas verloren, etwas ihm so wichtiges, dass er seine Gefühle nicht mehr zurückhalten konnte. Er hatte dafür gelebt, sich angestrengt und nie aufgegeben, egal wie hart ihn die Situation traf, er wagte immer einen Schritt weiter nach vorn. Ohne dieses Gefühl war er nichts, eine leere, fleischliche Hülle, die keinen Nutzen hatte. Wie sollte er so also nun weiter machen. All diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während Delia neben ihm saß. Sein hängender, deprimierter Kopf bereitete ihr Sorgen.

"Was ist los, Luke? Erklär mir doch, warum du so deprimiert bist.", sagte Delia in einem bemitleidenden Ton. 

Dann befragte sie ihn weiter, bis sie dann ins Stocken kam. Aber nicht wegen Nervosität oder fehlendem Selbstvertrauen, sondern weil Luke begann zu weinen. Tränen flossen seine Wangen hinunter auf seinen Schoß. Aus kleinen Tropfen wurden dann schnell Flüsse aus Tränen, die nicht aufhören zu schienen. Delia legte ihre Arme um Luke; ein verzweifelter Versuch, ihn zu trösten. Verzweifelt schluchzte er, wimmerte und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. 

Delia verstand zwar nicht, weshalb er weinte, doch sie gab ihr bestes, ihn zu trösten, damit er sich mit ihr unterhalten und sie ihm bei seinem Problem helfen könnte. Er weinte noch ein Weilchen. Das kostete ihn sehr viel Energie, weshalb er sehr müde war. Er konnte jedoch nicht schlafen, da es draußen immer noch hell war. 

"Luke, willst du mir jetzt vielleicht erklären, was los ist? Du weißt doch, dass ich immer zwei offene Ohren für dich habe. Deshalb erzähle mir, was dich so verzweifelt hat." , bat sie so liebevoll wie das Gefühl, verliebt zu sein. 

Luke blickte nicht mehr so deprimiert drein, weshalb Delia das als besten Moment sah, um ihn auszufragen. Sie wollte ihm sowieso helfen und wenn sie es erst morgen täte, wäre es vielleicht schon zu spät. 

"Delia,", seufzte Luke,"ich habe meinen Sinn verloren …"

"Wie bitte?! Du hast deinen Sinn verloren …? Was soll das bedeuten, Luke?"

"Ich habe mein ganzes Leben lang nur für den Goemul gelebt. Ich habe mein ganzes Leben lang ein Gefühl gehabt, das mir sagte: 'Kämpfe für den Goemul.'. Ich habe mein Leben nach dieser Stimme ausgerichtet und nie darüber nachgedacht. Sie gab mir einen Sinn, einen Wert, den ich nicht so einfach zurückerlangen kann."

Delia verstand, was er meinte. Sie würde dasselbe spüren, wenn Luke von einem auf den anderen Tag nicht mehr da wäre. Was solle sie dann machen? Ihr fiel nur ein zu sterben. Sie glaubte, dass Luke das gleiche dachte. Nur so konnte er sich fühlen, doch wenn man ihm einen anderen Grund gab zu leben, wie würde er sich dann fühlen? 

"Warum findest du nicht einfach einen anderen Grund, der dich dazu bewegt zu leben. Eine neue Quelle, die für immer quillt. Fällt dir keiner ein, den du sofort wählen würdest."

Delia wollte natürlich, dass er seine eigene Quelle findet, die keiner besitzt. Das könnte sich jedoch als schwierig herausstellen. Was ist, wenn er Delia wählt? Luke ist immerhin ihr Quell, weshalb sie sich so nur im Kreis drehen würden. Das bedeutet, dass Luke sich in einer Umgebung, in der er fast niemanden kannte, die er zuletzt vor langer Zeit gesehen hatte, neue Freunde und Verbündete suchen muss. Delia ist das bewusst, doch das ist der einzige Weg. 

"Eine eigene Quelle, die keiner besitzt …? Das klingt wirklich nach dir, Delia.", lachte Luke. "Sehr vernünftig und rational. Aber glaubst du wirklich, dass ich mir so einfach einen Quell suchen kann? Denkst du, dass das so einfach ist? Ich habe mich für den Goemul aufgeopfert, mich für ihn eingesetzt und ihn geliebt. Er war mein Vorbild, mein Idol. Wenn ich ihn so einfach austauschen könnte, dann wäre er mir nicht so wichtig gewesen. Es gibt nur eine Person, die ich so auf die schnelle zu meinem Quell machen kann."

Luke erzählte all das mit einem gequälten Lächeln. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass Delias Worte gerade nicht halfen. Sie erschwerten aber das Problem nicht, weshalb Luke sich darüber noch freute. 

"Es gibt also nur eine Person? Willst du mir nicht sagen, wer das ist? Wir könnten dein Problem vielleicht lösen."

Delia war neugierig. Sie wollte unbedingt wissen, wen Luke meinte, da das Problem damit schnell gelöst wäre und Luke sein altes Ich wiederfinden würde. Doch trotz ihrer Neugier war sie nicht aufdringlich. Stattdessen blieb sie ruhig und einfühlsam, um die Worte aus Luke herauskitzeln zu können. 

"Ach, das ist nicht so wichtig. Wenn du es nicht verstehst, dann denk einfach nach. Du solltest es schaffen, immerhin kannst du doch jedes noch so kleine Problem lösen, Delia."

Luke stellte seinen Oberkörper auf, drehte sich zu Delia, lächelte und schnippte sie. Delias Lippen entsprang nur ein leises 'Aua', während sie zusammen zuckte. Luke krümmte sich vor lachen. Er war so laut, dass Delia ihn ermahnen musste. 

"Luke!", meckerte sie in einem gemäßigten Ton. "Vergiss nicht, dass Tsuyoi hier immer noch schläft! Du willst ihn doch nicht aufwecken."

"Es tut mir leid, Delia. Ich bin von nun an leiser, versprochen.", erklärte Luke resignierend. 

Daraufhin brach Stille herein. Draußen klangen die Vögel, die einen wunderschönen Gesang erzeugten, Arbeiter, die immer noch dabei halfen, das Gebäude aufzubauen und der Wind, der durch die Blätter der Bäume rauschte. Das war die Natur, die Delia und Luke beim Entspannen half. Für sie war es so, als würden sie ein warmes Bad nehmen. Besonders Delia half es dabei nachzudenken. 

Was hat Luke eigentlich gemeint? Wer könnte denn sein Quell sein? 

Delia begann ihren Kopf anzustrengen, sich Gedanken um Luke zu machen, damit er sich nicht mehr so schlecht fühlte. Sie tat das, was eine Schwester nun mal machen sollte. Erst überlegte sie, welchen Personen Luke so nahe stand, dass er sie als Motivation zu leben sehen kann. Ihr allererster Gedanke war sie selbst, doch sie hatte Luke als Quell. Danach dachte sie über Rood nach.

Wieso sollte Rood keine Option sein? Immerhin hat er uns gerettet. Ich meine Luke sollte ihn lieben, denn er hat seine Obsession zum Goemul verloren. Auf der anderen Seite haben sie sich schon lange nicht mehr gesehen und unser Gespräch, das wir damals hatten, verlief auch nicht wie geplant. Wenn er ihm also noch nicht verziehen hat, ist das ein Problem. 

Delia konnte jedes noch so kleine Problem mit genug Zeit lösen. Sie sollte dieses Problem also auch lösen können, dachte sie. Sie versuchte an andere Personen zu denken, die Luke kennen könnte und die er akzeptierte. Doch ihr fiel keine anderen Personen außer Rood und sie selbst ein. 

Rood ist zu riskant. Wenn er wirklich noch nicht darüber hinweg ist, dann würde das nicht klappen und er sagte ja, dass es nur eine Person gäbe. Das heißt wohl, dass ich die Einzige bin, was? 

Innerlich seufzte sie. Sie dachte, dass sie ihm als seine Schwester helfen müsse. Dafür sollte sie jede Möglichkeit ausprobieren und nichts ausschließen. Dennoch konnte sie sich nicht so einfach dazu überreden, Lukes Quell zu werden. Sie wollte selbstsüchtig sein, da sich auch Delia nicht sicher ist, ob es jemanden gäbe, den sie akzeptieren könne. 

"Luke, … Was ist, wenn ich dein Quell werde? Würde ich dir genügen? Wärst du mit mir zufrieden?"

Luke stockte. Er war verwirrt, weil er nicht erwartet hatte, dass Delia sich einfach so leicht anbieten würde. Immerhin war er ja ihr Quell, das würde bedeuten, dass sie ihn aufgeben müsste. Was würde passieren, wenn sie das täte? Bleibt sie so wie immer oder wird sie dann, so wie Luke, zu einer motivationslosen Hülle aus Fleisch? 

"Das ist wirklich lieb von dir, Delia,", Luke schüttelte den Kopf, "Aber kannst du denn auf deinen Quell verzichten? Wenn ich mich in deine Lage hineinversetzen würde, dann sähe ich nur schwarz. Du bist mir all die Jahre blind gefolgt, ohne auch nur eines meiner Wörter zu hinterfragen. Ich weiß, dass es besser wäre, wenn ich nicht mehr dein Quell bin, doch wie sieht es mit dir dann aus?"

Luke überlegte kurz nochmal. Er machte Geräusche, die davon zeugten, dass er unschlüssig war, doch er fasste einen Entschluss. Daraufhin wollte er seinen Entschluss aussprechen und setzte an, jedoch unterbrach Delia ihn.

"Ich weiß, was du denkst. Du glaubst, dass ich keine eigenen Entscheidungen treffen kann, doch dem ist nicht so. Ich bin an den Herausforderungen, die wir gemeinsam bewältigten, gewachsen. Ich habe gemeinsame mit dir Höhen und Tiefen gehabt und sie durchgestanden, weshalb ich jetzt hier neben dir stehe und dir sagen kann: Lass mich deine Quelle sein, die die dich zwingt zu leben, die dir Motivation und einen Willen verleiht, lass mich, Delia, deine Quelle sein!", erzählte Delia emotional, während sie langsam aufstand. "Ich bitte dich, Bruder."

Für den letzten Satz verbeugte sie sich mit einem tiefen Knicks, der Luke überraschte. Der Knicks kam zwar sehr überraschend, doch Luke konnte diese Situation nicht ernst nehmen. Seine Schwester hatte sich noch nie vor ihm verbeugt. Es war gar nicht typisch für so und doch tat sie es. Luke konnte nur lachen. 

"Äh? Was?! L… Luke? Wieso lachst du? I… I… Ich… Erkläre dich! Sofort! Ich habe dir solch emotionale Dinge erzählt und du lachst einfach?"

Dass Luke zu lachen begann, machte Delia nervös. Ihr Gesicht lief rot an, weil es ihr unangenehm war, was sie gesagt hatte. All diese Worte passen gar nicht zu ihr. Normalerweise war sie kühl, cool und nicht aus der Fassung zu bringen, doch nun war sie verletzlich und zeigte Seiten, die sie sonst nicht zeigte. Eine völlig neue und veränderte Delia. Dennoch war sie nicht zu unterschätzen. Luke fand es aber trotzdem witzig.

"Delia, auf der einen Seite bist du kühl und kalkuliert und auf der anderen so ulkig, ha ha ha. Angesichts der Tatsache, dass ich ohne einen Quell nicht weiter komme und du dich angeboten hast, wofür du bestimmt deine Gründe haben wirst, werde ich annehmen. Bitte, Delia, sei mein Quell, der der mich führt und vorantreibt."

Luke streckte seine Hand aus. Delia sah das und griff nach Lukes Hand, um einzuschlagen und alles zu besiegeln. Dieser Moment war so wie ein Mundschwur.

"Ja, Luke, ich verspreche, dein Quell zu sein und dich voranzutreiben und zu führen."