Cordelia

"Dann warum erteilen Sie ihr nicht eine Lektion?"

Bei diesen Worten zuckten Veronika und Penelope vor Überraschung zusammen. Sie hatten nicht mit einer Mithörerin gerechnet, schon gar nicht mit einer so erfahrenen wie die Marquise Francessa Seibert. Bevor sie heiratete, war sie die Tochter des Grafen Rindwald. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie zu den Hauptkandidatinnen für die Ehefrau von Atticus zählte, da ihr Vater zu den Ersten gehörte, die seine Beanspruchung des Throns unterstützten.

Sie hatte sich wahrlich Mühe gegeben, Atticus zu schmeicheln, doch der König war so kühl wie die Winter des Königreichs. Für eine Frau mit einem Herzen aus Eis war es unmöglich, seine Verteidigung zu durchbrechen.

Atticus hatte es abgelehnt, sie zur Frau zu nehmen, also heiratete sie stattdessen den Marquis Seibert. Es entging ihnen nicht, dass der Marquis nicht auf dem Ball anwesend war.

"Meine Gnädigste!" Sie verbeugten sich beide eilig.

Veronika und Penelope waren nur kleine Fische im Vergleich zu jemandem wie der Marquise. Die Dame war eine, zu der sie aufblickten, ein Name, der ihnen vertraut war. Obwohl jede Frau danach strebte, Königin von Vramid zu werden, gab es nur eine Frau, gegen die sie gerne verlieren würden – Francessa.

Sie wäre die perfekte Königin gewesen. Keine andere in ihrer Altersgruppe wäre besser für den Titel geeignet gewesen, am wenigsten jedoch die Prinzessin in Gestalt eines trojanischen Pferdes, die Reaweth in einer Allianzheirat geschickt hatte.

"Guten Abend, meine Damen." Francessa lächelte mit der Mildtätigkeit einer Heiligen. Hätten die Frauen genauer hingesehen, hätten sie bemerkt, dass ihr Gesichtsausdruck so düster war wie alles, was verrottet und schmutzig ist.

"Guten Abend", erwiderte Penelope höflich.

"Was meint Ihr damit, meine Gnädigste…?" Veronika hielt inne und wartete darauf, dass Francessa fortfuhr.

"Ihr habt mich richtig verstanden." Francessas Lächeln hielt an, immer noch schön wie eine Porzellanpuppe, obwohl sie Worte sprach, die voller Gift waren. "Sie ist immernoch eine Außenseiterin, nicht wahr? Und wäre es eine Allianzheirat, könnte sie nicht einmal auf die Unterstützung des Königs zählen."

"Aber Seine Majestät hat sie gerade noch verteidigt..."

"Nur weil alle zuschauen", antwortete Francessa sanft. "Gäbe es keine Zuschauer, warum sollte er wohl eine Frau verteidigen, die er gar nicht begehrt?"

Bei ihren Worten sahen sich die beiden Frauen an und lächelten einverstanden.

***

Daphne bemerkte den ungnädigen Gesichtsausdruck von Atticus, als er sie erneut erwischte, wie sie sich alleine davonstahl. Das war nun das vierte Mal an diesem Abend, dass sie sich aus seinem Blickfeld gestohlen hatte, und das vierte Mal, dass er sie aufgegriffen hatte.

Nicht dass sie aktiv zu fliehen versuchte, aber es wurde langweilig, für Menschen, die sie nicht gut kannte, Lächeln vorzutäuschen.

"Und wo wolltest du dieses Mal hin entwischen?" fragte Atticus streng und zog eine tiefe Falte auf die Stirn. Er griff ihr am Ellbogen, hielt sie sanft, aber bestimmt fest, sodass sie nicht weiter entwischen konnte.

Daphne erwiderte seinen Gesichtsausdruck. "Verzeihung, Eure Majestät", betonte sie seinen Titel sarkastisch, "aber Korsagen und hohe Absätze sind nicht gerade das Angenehmste zu tragen. Besonders wenn man ausgehungert und erschöpft ist."

"So eine verwöhnte Prinzessin." Atticus klickte mit der Zunge. "Lassen Sie mich Sie begleiten―""Ihre Majestät!" Eine ferne Stimme zog die Aufmerksamkeit der beiden auf sich und unterbrach Atticus' Satz, als sie sich der Ursache des Rufs zuwandten.

Dort erblickte Daphne einen hager wirkenden Mann in einem Anzug, der an ihm wie an einer Vogelscheuche wirkte. Neben ihm stand eine prächtige Frau mit langem, pastellblauem Haar, das in eleganten Wellen gekräuselt war. Ihr Kleid entsprach in Farbe und Ton dem Haar, war jedoch einen Tick dunkler. Die Kombination aus Farben bildete einen faszinierenden Kontrast zu ihrem gebräunten Teint.

Daphne verzog die Nase. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Personen sein könnten, doch anhand ihres Auftretens schienen sie mehr als nur einfacher Adel zu sein. Insbesondere fielen ihr die zahlreichen Schmuckstücke an den feinen Armen der Frau auf, besonders auffallend war ein Armband, besetzt mit Saphiren, das sie am Handgelenk trug.

Sie schloss darauf, dass es sich bei der Frau um eine hochrangige Persönlichkeit handeln musste. Es gab nur wenige, die sich derartigen Schmuck leisten konnten, geschweige denn in solcher Fülle.

"Meine Königin," wiederholte der Mann, "ich überbringe Euch demütige Grüße." Er verbeugte sich tief und extravagant und hielt eine Hand an seine Brust und die andere ausgestreckt.

Atticus' Blick fiel auf den blauen Schmuck, der ihre Gestalten zierte, und er erkannte schnell, wer sie waren.

"Lord Castillo", nickte Atticus. Dann wendete er sich an die Frau. "Und Sie müssen Prinzessin Cordelia sein. Es freut mich, dass Sie beide zu diesem bedeutenden Anlass zugegen sein können."

Prinzessin Cordelia, Cordelia Aberforth von Nedour, schlussfolgerte Daphne. Ein Küstenreich weit entfernt von Reaweth und Vramid. Daphne wusste, dass Vramid und Nedour Handelsbeziehungen unterhielten, aber dass ihre Verbindungen gut genug für eine Anwesenheit der Krönenden Prinzessin selbst auf einem schlichten Ball am anderen Ende des Kontinents wären, schien unwahrscheinlich.

"Ja, ein Glückwunsch an Ihre Majestät..." Lord Castillo stockte, musterte Daphne von oben bis unten und fuhr fort: "Ihre Majestäten," korrigierte er sich. "Als Vramids wichtigster Handelspartner hielt es Seine Majestät, König Marinus, für angemessen zu erscheinen. Leider war er verhindert, deshalb entsandte er seine Kronprinzessin an seiner Stelle."

Prinzessin Cordelia enttäuschte wahrlich nicht. Die Dame trat ein wenig vor, ein schönes Lächeln auf den Lippen. Bewegte sie sich, so bewegte sich auch ihr Haar. Die seidigen Locken fielen von ihren Schultern und entblößten so ihren Ausschnitt. Ihr tief ausgeschnittenes Kleid überließ wenig der Vorstellungskraft.

"Sei gegrüßt, Eure Majestät." Sie verneigte sich, beabsichtigt tiefer als notwendig. Daphne konnte durchaus den Ausschnitt ihres Kleides betrachten, ohne es zu beabsichtigen.

Daphne schnaubte. Sie ahnte, was diese Prinzessin bezweckte, und tatsächlich sollte sich dies bestätigen.

"Das Königreich Nedour hat also jemanden von so niedrigem Stand, dass ihre Prinzessin sich wie eine Dirne verhalten muss?" fragte Daphne direkt, ließ dabei absichtlich ihren Blick langsam über den tiefen Ausschnitt von Cordelias Kleid gleiten, unter dem ihre leider unbeeindruckende Oberweite zu beeindrucken versuchte.

Cordelias Gesicht färbte sich zu einem passenden Ton zu ihrem Kleid.

"Ich verzeihe Euch Eure gedankenlosen Worte, Prinzessin Daphne." Cordelia zuckte sachte mit den Schultern und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. "Es ist nicht Eure Schuld, dass Ihr nie die Grenzen Eures Landes bis heute überschritten habt. Die Welt ist weitläufig, und die Welt der Mode noch umfassender."

Daphne spottete.

"Aber es ist unhöflich von mir, Euch auf Eure Mängel hinzuweisen, nicht wahr?" Cordelia lächelte honigsüß, Spott in jeder Silbe. "Ohne magische Affinität ist selbst ein unbezahlbares Halsband an Euch wertlos."

Daphne krallte sich an ihrem Granat fest, missfiel ihr doch der gierige Blick, mit dem Cordelia ihn bedachte. Zuerst ihr Gatte, nun ihre Juwelen - diese Frau stellte eine Bedrohung dar.

"So wird keine magische Affinität aktiviert." Cordelia tadelte, ein boshafter Glanz in ihren Augen. "Ich werde Euch zeigen, was wahre Macht ist."

Mit einem Fingerschnipsen leuchtete das saphirbesetzte Armband auf und begann zu glühen.