Hinkender Körper

Lina und Isabelle betraten ihre Schlafsäle, doch Isabelle musste einen Anruf entgegennehmen. Lina dachte sich nichts dabei und ging in ihren Schlafsaal, schloss die Tür hinter sich, um Privatsphäre zu schaffen. Sekunden später flog die Tür auf.

"Du!" Isabelle keuchte entsetzt und zeigte mit dem Finger auf Lina.

"Ich?" wiederholte Lina unschuldig.

"Wer sonst?" Isabelle seufzte genervt. Sie legte den Anruf auf und warf das Handy auf den Tisch.

"Der Mann, den du im Museum getroffen hast, wie sah er aus?!"

Lina blinzelte, während sie ihre Wäsche für die Winterpause zusammenlegte. "Ich habe dir doch gesagt, er sah aus wie der zweite König von Ritan—"

"Ich dachte nicht, dass du das wörtlich meinst!" Isabelle keuchte, drückte ihr Handy in Linas Gesicht.

"Sag bloß, der Typ, in den du gelaufen bist, war Kaden DeHaven selbst!" rief Isabelle und Lina blickte auf das Handy, erbleichte.

"Was zum Teufel ist das?" verlangte Lina und ergriff ihr Handy, starrte es fassungslos an, wünschte, es würde verschwinden, je länger sie es anblickte.

"Dieses Bild geht gerade viral!" sagte Isabelle aufgebracht. "Als Journalismus-Studentin, weißt du, was für eine große Nachricht das ist? Hättest du mir das nicht vorher sagen können, dann hätte ich darüber berichten und es an mein Praktikum weiterleiten können—"

"Du machst dir Sorgen um dein Praktikum, ich mache mir mehr Sorgen, dass meine Eltern das sehen." Lina umklammerte das Telefon fester und wünschte, es würde vor ihren Augen zerspringen.

Es war ein Foto von ihrem schlaffen Körper, getragen von Kaden. Ihr Gesicht war klar zu erkennen.

Lina entgingen nicht die Adern, die in seinen Händen hervortraten und zeigten, wie fest er sie hielt.

Bilder aus ihrem ersten Leben flimmerten durch ihren Kopf. Der strenge Regen auf seinem Leib, sein hastiges Atmen, die panischen Schritte und die Wärme seines großen Körpers. Er hatte sie schon einmal getragen, mit derselben Dringlichkeit.

Linas Herz sank in ihren Magen. Würde sich ihre Liebesgeschichte immer wieder wiederholen, bis das Ende endlich nicht mehr tragisch war? Sie berührte ihren Hals und seufzte.

"Hat sich deine Anämie wie durch ein Wunder vor seinen Augen bemerkbar gemacht?" dachte Isabelle laut nach.

Lina zuckte zusammen. "Ja, irgendwie schon."

"Von wegen 'irgendwie'!" Isabelle spottete und tippte aggressiv auf ihr Handy. "Wenn du das absichtlich gemacht hast, kann ich dir keinen Vorwurf machen. Er ist einer der meistbegehrten Junggesellen des Landes!"

Lina sah, dass Isabelle mehrere SMS-Nachrichten erhielt, in denen nach ihrer Telefonnummer gefragt wurde. Aus Gründen der Privatsphäre gab Lina ihre Kontaktdaten nur selten heraus.

"Wie weit hat sich dieses Foto verbreitet?" fragte Lina."So weit verbreitet wie der Sand in einer Wüste", antwortete Isabelle trocken. "Bis jetzt sollte es Kadens Publizisten erreicht haben."

Lina fragte sich, was wohl gerade in Kadens Kopf vorging. Die Ähnlichkeit zwischen seinem Namen und dem des zweiten Königs von Ritan unterschied sich lediglich um einen Buchstaben. Kaden war unverschämt wie immer. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er es schaffen konnte, zehn Jahrhunderte zu überleben. Nicht einmal ein reinblütiger Vampir lebte so lange.

"Dieses Foto wird bald verschwinden", murmelte Lina, die bereits wusste, dass es mit dem Morgengrauen aus dem Internet gelöscht sein würde.

Lina erkannte, dass ein heftiger Regenfall bevorstand, als sich düstere Wolken über ihrem Fenster sammelten und sie an die schicksalhafte Nacht erinnerten, in der sich zwei Liebende tragisch ineinander verloren hatten.

BUMM!

Lina zuckte zusammen, als der Donner den Himmel durchbrach. Sie zitterte, traumatisiert vom Geräusch.

"Ich mach die Fenster und Gardinen zu", eilte Isabelle, die wusste, dass ihre Freundin Angst vor Gewitter hatte. Sie schloss das Fenster und zog die Gardinen zu, doch das dämpfte das Unwetter kaum, und sie sah ihre Freundin an.

Linas stolze Schultern wirkten plötzlich klein und sanft, wie ein weißer Kranich, der seine Flügel anlegt. Ein gequälter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, der Isabelle zum Nachdenken brachte.

Das glich fast einem Gemälde, das Isabelle in ihrem Schulbuch gesehen hatte. Wer war das noch mal? Sie runzelte die Stirn, als ihr ein Gedanke kam. Die Lieblingsfrau des zweiten Königs von Ritan! Isabelle verengte die Augen.

"Und was meinst du damit, dass die Fotos bald verschwinden werden? Wer löscht die?" fragte Isabelle, misstrauisch über Linas Reaktion.

"Vielleicht wird das Team von DeHaven Publizisten das Foto löschen?", sagte Lina, doch es klang eher wie eine Frage.

"Schon klar ..." Isabelle verstummte.

Lina kroch in ihr Bett, wie ein Kind, das sich darauf vorbereitet, bis zum nächsten Morgen zu schlafen.

"Es ist buchstäblich vier Uhr nachmittags und du willst ein Schläfchen halten? Ich meine, mach was du willst, aber es ist Nachmittag", sagte Isabelle.

"Du schläfst bis zum Nachmittag und willst mich jetzt beurteilen?" erwiderte Lina nervös und kuschelte sich zur Beruhigung unter ihre Decke.

Linas liebster Fluchtort vor der Realität war der Schlaf, selbst wenn der Zweite König in ihren Albträumen auf sie wartete. Sie schloss die Augen und beschloss, jetzt zu schlafen, ehe der Sturm sich verschärfte.

"Gut, dann gute Nacht", sagte Isabelle und ging zu Linas Seite des Zimmers.

"Mmm..." brummte Lina, denn sie begann, den Bezug zur Realität zu verlieren. Das Letzte, was sie spürte, war Isabelles beruhigende Hand auf ihrem Kopf und ihre leise Stimme.

"Lass uns hoffen, dass der Sturm bald vorbeizieht..." flüsterte Isabelle, doch sie meinte kaum den Regen draußen oder das viel beachtete Foto.

Wenn es keines dieser Fotos war, welcher Sturm könnte es dann sein?