Eure Hoheit

Lina erwachte in völliger Finsternis und wusste sofort, dass dies nicht ihr Schlafsaal war. Sie erkannte den vertrauten Duft des Waldes, vermischt mit dem Geruch frischer Kohle, und die lebendigen Farben, die um sie herum zu glimmen begannen. Dann spürte sie Tropfen auf ihrer Nase – ein weiterer folgte – und bald prasselte Regen auf sie nieder.

Der Regen durchdrang ihren Körper, und sie begriff, dass sie ein Geist war, gefangen in der Vergangenheit. Es war stets dasselbe.

Die Szenerie vor ihr erinnerte an den uralten Osten. Es gab spiralförmige rote Säulen, die sich mit Gold umschlungen in den Himmel streckten, majestätische Dachlandschaften und rote Mauern, als würden sie den Himmel herausfordern. Seide, filigrane Stickereien und eine Eleganz, die man selbst aus weiter Ferne wahrnehmen konnte.

Dies war nicht die Moderne, sondern ein weiterer Albtraum aus längst vergangenen Zeiten.

"Eure Hoheit, wartet auf mich!", rief eine Stimme verzweifelt und jagte einem Mann und einer Frau hinterher. Er schwenkte einen Regenschirm wie ein Banner im Kriegseifer.

"Ihr werdet nass, Eure Hoheit. Ihr könntet krank werden!", flehte er, während er zusah, wie der Prinz sein kostbares Seidengewand dem Regen preisgab. So ein wertvolles Gut – und der Prinz setzte alles aufs Spiel für eine Frau.

"Im Sommer werden nur Narren krank", erwiderte eine vertraute Stimme, bei der Lina zusammenzuckte.

Linas Atem stockte, als sie ihn erblickte. Strahlend wie die Sonne, frostig wie der Mond. Er hatte ein Antlitz, das ein ganzes Volk in Aufruhr versetzen konnte, eine Stimme, die Herzen durchschnitt, und einen Blick, mit dem er ein Königreich beherrschte.

"Aber die Prinzessin, sie wird erkranken, Eure Hoheit!", platzte Sebastian heraus und wies auf die fahle Haut der Prinzessin, ihre durchweichte Frisur, die ihr im Gesicht klebte, und ihren schlaffen Leib.

Endlich hob der Prinz seinen Kopf von der bewusstlosen Frau in seinen Armen. Obwohl er sie zu Fuß vom Eingang des Palastes bis zu seinem Privatbesitz getragen hatte, schien er nicht außer Atem zu sein. Sie war so leicht wie die Kalligraphieblätter, auf denen sie stets schrieb.

"Kade?", murmelte Lina den Namen des zweiten Königs von Ritan, doch ihre Worte verflogen ungehört.

In diesem Augenblick war Kade lediglich ein Prinz. Bald sollte er bekannt sein als der blutrünstige und erbarmungslose Tyrann des Ostens, dessen Schwert stets rot gefärbt war – alles für eine einzige Frau.

"Ihr meint also, die Prinzessin ist eine Närrin?", konterte Kade und ließ Sebastian erstarren.

"W-was? Nein, Eure Hoheit, ich ..."

"Geh und hol den kaiserlichen Arzt", befahl Kade mit einem Knurren, der Nässe keine Beachtung schenkend. Er sorgte sich vielmehr um das winzige Ding in seinen Armen. Zuvor war sie noch stolz und übermütig gewesen. Was war nur geschehen?

Erinnerungen an ihre langen schwarzen Haare, wie sie im Winde wehten, ihren scharfen Blick und ihr zögerliches Lächeln tauchten vor seinem inneren Auge auf. Doch nun lag sie da, blass und blau.

Kades Gesicht verdüsterte sich. Sobald er den Übeltäter fand, würde er ihn in Stücke reißen, zerhacken und seinen Angehörigen zum Fraß vorwerfen.

"Und du!", fuhr Kade an, diesmal Lina anblickend, die zusammenzuckte.

Lina starrte ihn mit großen Augen an, unsicher, ob er sie wahrnehmen konnte. Manchmal konnte er es, manchmal nicht. Dies war ihr Traum, aber irgendwie fühlte es sich so an, als wäre es seiner.

"Warum stehst du bloß herum?"

Lina blickte hinter sich und bemerkte eine Frau in schlichter Kleidung. Überrascht stellte sie eine Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und Isabelle fest.

"Hol warme Kleidung", wies Kade an.

"Ja, Eure Hoheit", flüsterte die Dienerin, verbeugte sich und rannte davon.Lina starrte die Dienerin an, verwirrt, warum auch Isabelle in ihren Albträumen erschien.

Plötzlich stieß Kade seine Tür auf und knallte sie hinter sich zu. Lina lief ihm nach, und ihr Körper glitt wie ein Geist durch die Tür.

Stillschweigend betrachtete Lina Kades vertrautes Schlafzimmer, in dem ihre Körper einst ineinander verschlungen waren. Die Erinnerungen kamen zurück.

Die edlen Holzmöbel von tadellosem Design, die Bambusschirme mit Gemälden hoher Berge und fliegender Kraniche, die dunklen Vorhänge, die von einer hohen Säule zur anderen reichten, und die Musselin-Gardinen am eleganten Fenster.

Dies war nicht die moderne Welt, in der Vampire sich zu erkennen gegeben hatten. Es war die Vergangenheit, zehn Jahrhunderte zuvor, als Menschen auf der Welt noch in höchstem Ansehen standen und nicht als Dreck an den Schuhen der Leute angesehen wurden.

"Geh nicht..."

Lina zuckte zusammen, als sie ihre eigene Stimme aus dem Mund der Frau hörte. Sie sollte eigentlich nicht überrascht sein, aber sie war es.

"Wer hat dir das angetan?" forderte Kade, packte ihre zitternde Hand und neigte sich näher zu ihr, um sie deutlich zu hören. Wer hatte es gewagt, seine Frau zu verletzen?

"Bleib...", hauchte die Frau und klammerte sich an ihn.

Kades Augen flammten auf bei ihren Worten. Sie lag in seinem Bett, in seinem Zimmer, unter seinen Decken und dachte, er würde gehen?

"Ich werde immer bleiben. An deiner Seite, unter dir oder über dir... du hast die Wahl," murmelte Kade mit gefährlichem Unterton in seiner Stimme. Seine verdunkelten Augen huschten zu ihrem bebenden Mund.

Lina schmerzte das Herz, als sie diese Szene sah. Es war zu intim, um Zeuge davon zu sein. Wie lange war es her, dass sie seine sanfte Stimme gehört hat? Das Letzte, an das sie sich aus ihrem früheren Leben erinnerte, war eine kalte Klinge an ihrem Hals und Kades mörderische Reaktion.

Es war schon qualvoll genug, sich an ihr erstes Leben zu erinnern, aber nun musste sie es erneut durchleben.

"Wie lange willst du mich noch bekämpfen?" murmelte Kade und strich das nasse Haar aus dem Gesicht seiner Feindin. Er hätte sie töten sollen, als er die Chance hatte, doch er tat es nicht. Stattdessen pflegte er sie zurück zur Gesundheit – in seinem heiligen Bett.

"Ich habe Hunderte Schlachten geschlagen. Krieg ist für mich ein Kinderspiel, und es dauert nicht mehr lange, bis ich dein Königreich erobern werde", sagte Kade grausam zu ihr, selbst in ihrer schwächsten Stunde. "Warum ergibst du dich mir nicht?"

Die Frau sagte nichts. Sie war so ruhig und still, dass Kade dachte, sie schlief.

"Meine törichte Taube", Kade lächelte amüsiert.

"Ich bin der Grund, warum du diese Schlacht niemals gewinnen wirst", hauchte sie, ihre Lippen blau und kalt, doch sie wagte es, zu ihm hochzublinzeln.

Kades Herz schlug heftig. Was er mit diesen Lippen alles tun wollte. Die süße, süße Prinzessin seines Feindes. Er wollte ihre Unschuld mit seinen Händen zerstören, diese Frau, die von vielen verehrt wurde.

Lina grub ihre Fingernägel in ihre Handfläche. Die Leute hatten diese Zeile immer falsch aufgefasst. Jeder dachte immer, der Prinz von Ritan hätte sie gesagt, doch es war die ganze Zeit über die Prinzessin von Taren gewesen.

"Diese Schlacht ist bereits entschieden, dein Königreich gehört mir", knurrte Kade.

Lina zitterte. Diese Worte standen niemals in den Geschichtsbüchern. Nirgendwo im Museum wurden sie erwähnt. Niemand auf dieser Welt hatte diesen Satz gehört, niemand außer Kade und der Prinzessin.

Wie also kannte der Fremde aus dem Museum diese Worte? Es sei denn, Kaden DeHaven war selbst der Zweite Prinz von Ritan. Doch das würde bedeuten, dass der heutige Kaden mindestens 1000 Jahre alt wäre. Das konnte nur eines bedeuten – er war unsterblich.