Liebe Taube

Kaden warf ihr lediglich einen Blick zu. Sein Gesicht und sein Blick verrieten nichts. Ein leichter Schimmer von Belustigung war alles, was er durchblicken ließ. Er neigte den Kopf und musterte ihre klaren Augen, in denen er sein eigenes Spiegelbild erkennen konnte.

"Und wenn ich unsterblich bin?" gab Kaden zurück.

"Das würde mich nicht überraschen", schnaubte Lina.

Kaden ließ ein leises Lachen hören. Also wurde sie immer noch von Erinnerungen gequält. Erinnerungen, die sie sich selbst erschaffen hatte, Lügen, die sie aussprach, um sich selbst zu beruhigen, und Augenblicke, in denen sie sich weigerte, seine Erklärung zu hören.

Kaden schüttelte den Kopf über ihre Frechheit, sein Kiefer presste sich zusammen.

"Wie ist das möglich?" fragte Lina plötzlich. "Du hast Hunderte von Jahren überlebt, bist sogar länger als reineblütige Vampire am Leben und dennoch hast du es geschafft, dich zum berüchtigten jungen Meister des Hauses DeHaven aufzuschwingen."

Kaden hob eine Augenbraue. "Und findest du es nicht amüsant, dass du, egal in welchem Leben, immer in einer reichen Familie geboren wirst?"

Lina war verdutzt. "Du kanntest mich aus meinen früheren Leben, abgesehen von meinem ersten?"

Kadens Blick wurde härter. Sie hatte also tatsächlich alles vergessen.

Kaden glaubte nicht, dass sie wirklich alles vergessen hatte. Es schien, als wäre ihre Reaktion im Museum nicht gespielt gewesen.

Jemand unterdrückte ihre Erinnerungen, aber wer? Kopfschmerzen wie die, die sie erlitt, sollten nicht so schwer sein, es sei denn, es wurde eine extreme Hypnose oder Therapie an ihr vorgenommen.

"Gib mir eine Antwort", forderte Lina, müde von den Spielen, die er mit ihr trieb.

"Sagen wir einfach, das Haus DeHaven schuldet mir einen Gefallen", sagte Kaden und lehnte sich in seinem Sitz zurück.

Lina dachte plötzlich an die Gründung des Hauses DeHaven. Sie waren eine der angesehensten Familien in Ritan, stammten aus königlichem Geblüt. Ihr Atem stockte. Plötzlich erinnerte sie sich an den kurz erwähnten Namen aus ihrem ersten Leben.

"Du ..." Lina stockte und sah ihn verwirrt an. "Du vertraust dem Feind."

Kaden lachte, aber es klang kalt. "Stelle deine Feinde ein, sie haben mehr zu beweisen als Freunde."

Lina sah ihn zitternd an. "Die DeHavens besitzen ein verdammtes Wirtschaftsimperium."

"Natürlich tun sie das", sinnierte Kaden. "So wie der Yang-Clan die Unterwelt beherrscht. Gib nicht vor, dass deine Hände nicht genauso blutbefleckt sind wie unsere."

"Ich habe keine Verbindung zu meiner Familie, ich—"

"Du bist Lina Yang, die Lieblingsenkelin des großen Lawrence Yang. Du wagst es zu behaupten, du hättest keine Verbindung zu den Yangs?" knurrte Kaden.

Linas Herz blieb stehen. Sie öffnete und schloss den Mund. Seine haselnussbraunen Augen blickten sie an, die Farbe mächtiger Eichen. Die Farbe verdunkelte sich wie ein unendlicher Abgrund, in dem alle Hoffnungen und Träume zugrunde gehen.

"Nimm mich nicht für dumm, das wirst du bereuen", warnte Kaden."Ich stehe in keiner Verbindung zu den Geschäfts- und Unterweltaktivitäten meiner Familie", erklärte Lina. "Ich bin einfach eine Frau, die das Glück hatte, mit dem Familiennamen Yang geboren zu sein."

Kaden schnaubte. "Du willst mir also erzählen, dass Lawrence Yang dich nicht als die nächste Erbin von Yang Enterprise sieht?"

"Ich –"

"Du willst mir also sagen, dass dein Onkel, der aktuelle Vorsitzende von Yang Enterprise, dich nicht ins Büro geholt hat, damit du unter seiner Aufsicht lernst?" forderte Kaden.

"Er hat nur –"

"Und du willst mir erzählen, dass dein Vater dich nicht von Kindesbeinen an auf die Nachfolge vorbereitet hat, aber dann hast du plötzlich aufgehört, kurz nachdem du vom Internat zurückgekehrt bist?" insistierte Kaden.

Lina war sprachlos. Man hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.

Niemand wusste davon. Nicht einmal ihre eigene Mutter.

Niemand wusste, dass ihr Großvater sie als nächste Erbin betrachtete, ihr Onkel in ihr das größte Kapital für die Firma sah, und ihr Vater sie seit ihrer Geburt darauf vorbereitet hatte, das Unternehmen zu übernehmen, trotz vieler männlicher Cousins.

"Also wage es nicht, den elenden Namen DeHaven zu verachten, denn die Yangs sind nicht besser", sagte Kaden, und seine Stimme wurde sanfter.

Kaden streckte seine Hand aus, strich sanft mit dem Daumen über ihren Hals. Er spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte und ihre Wimpern flatterten. Er ordnete behutsam eine Haarsträhne an und ließ sie sanft gegen ihre Brust fallen.

"Die Geschäfte meiner Familie gehen mich nichts an", gab Lina schließlich zu.

Kaden hob seinen Blick von ihrem dunklen Haar zu ihren dunklen Augen.

"Natürlich nicht", sagte Kaden. "Wie könnte die Familie Yang es zulassen, dass ihre kostbare Lina ihre hübschen kleinen Finger mit Blut beschmutzt?"

Kaden nahm ihre Hand in die seine und bewunderte ihre schlanken Finger, zerbrechlich wie Eis. Er strich mit dem Daumen über ihre Knöchel und hörte ihr scharfes Einatmen.

Ziehe dich zurück. Tu es jetzt.

Kaden erwartete, dass sie ihn zurückwies, dass sie aus seinem Auto stürmte und nie wieder zurückblicken würde.

"Was lässt dich das denken?" fragte Lina leise.

Kaden wusste, dass er nichts für sie war. Er wusste, dass Lawrence Yang seine Enkelin niemals einfach so jemandem überlassen würde. Die Kostbarkeit und Perle der Familie Yang, ihre jüngste Tochter.

Lina war nie dazu bestimmt gewesen, in den Armen eines Mannes zu sein, der mehr Blut an den Händen hatte als die gesamte Generation der Yangs.

Leider wollten die Männer der Dehaven-Familie immer das, was sie nicht haben konnten. Und so endeten viele von ihnen mit Kugeln zwischen ihren Augen.

"Ich bin meiner Familie nicht so wichtig, wie du denkst", spottete Lina.Lina versuchte, ihre Finger ruhig zu halten, obwohl in ihrem Inneren alles brannte bei seiner Berührung. Seine Hände waren viel größer als ihre. Ein frecher Kommentar von Isabelle hallte in ihrem Kopf nach: Je größer die Hände, desto größer das...

"Du bist", sagte Kaden mit Nachdruck, "die süße Lina Yang, mit einem Herzen aus Gold und Augen wie ein aufziehender Sturm."

Kaden umfasste liebevoll die Seite ihres Gesichts. Ihre Wimpern zitterten, als sie seinem Blick begegnete. Sanft und behutsam streichelte er ihre glatte Haut.

"Dein Gesicht ist der Grund, warum deine Familie dich vor der High Society verborgen hält", murmelte Kaden.

Sein Daumen fuhr sachte und sinnlich über ihre Unterlippe.

"Und diese Lippen sind es wert, auf sie bei Abmachungen zu wetten", versprach Kaden.

Linas Herz setzte einen Schlag aus. Sie wusste, was er andeutete – eine arrangierte Ehe.

Sie wollte sich seiner Berührung entziehen, doch sie war so berauschend. Die Art, wie er sie berührte, wie er sie ansah, ließ sie sich fühlen, als wäre sie die einzige Frau für ihn.

Ihre Haut lechzte nach mehr von ihm, ihr Magen kribbelte. Sie presste ihre Beine zusammen, als sich eine vertraute Wärme zwischen ihnen ausbreitete.

"Kannst du nicht einfach meine Frage beantworten?" fragte Lina leise und legte ihre Hand auf seine.

Sie war nicht naiv. Auch sie konnte dieses Verführungsspiel spielen, denn es gehörten immer zwei dazu.

Lina neigte sich näher, weitete unschuldig ihre Augen.

"Kannst du mir nicht die Wahrheit sagen, Kaden?" flüsterte Lina, ihre Stimme sanfter machend, beinahe intim.

Etwas regte sich in ihrem Inneren.

Kaden verengte seine Augen. Als sie mit ihren langen Wimpern klimperte, spürte er, wie es in seiner Leistengegend spannte. Verdammnis, diese Frau wird mein Untergang sein.

"Und was ist die Wahrheit?" forderte Kaden, wobei seine Hand sich unter ihrer Berührung spannte.

Linas Finger glitten über die markanten Adern auf seiner männlichen Hand. "Bist du unsterblich?"

"Wirst du mich küssen, wenn ich es dir sage?" scherzte Kaden.

Lina lachte. "Irgendetwas sagt mir, dass du die Wahrheit schon preisgeben wirst, bevor ich dich küsse."

Ganz genau.

Kaden presste die Zähne aufeinander, sein Kiefer spannte sich an und seine Augen funkelten. Blitzartig packte er ihre Taille und zog sie an sich. Ihre Hände flogen zu seiner Brust und sie landete auf seinem Schoß.

Lina bekam kaum Luft. Er hielt sie, als wöge sie nichts. Seine großen Hände umfassten fest ihre Taille. Durch den Stoff ihres Oberteils spürte sie die Hitze seiner Berührung.

"Wenn du so verzweifelt nach der Wahrheit suchst, dann küss mich", verführte Kaden mit leiser, verschlagener Stimme.

Lina schluckte. Er hatte dieses Spiel begonnen und sie hatte sich entschieden, mitzumachen. Sie würde es zu Ende bringen.

"Vielleicht, wenn du darum bettelst", erwiderte Lina.

Kaden hielt inne, die Idee für einen Bruchteil einer Sekunde in seinem Gedanken blitzen lassend.

Lina legte ihre Finger an seinen Kiefer, so scharf, dass sie Glas schneiden könnten. Sie zog sie hinunter zu seinem Hals, was ihm ein leises Stöhnen entlockte. Sie beugte sich vor und traf seinen feurigen Blick. Er begehrte sie genauso sehr wie sie ihn.

Linas Nase strich an seiner vorbei, ihre Lippen waren so nah, dass sie sich fast berührten.

Aber sie küsste ihn nicht. Und er küsste sie auch nicht. Küsse waren für Verliebte, nicht für flüchtige Romanzen.

"Weißt du was?" flüsterte Lina.

"Was?" räusperte sich Kaden, gierig nach mehr.

"Ich brauche nicht zu betteln, um die Wahrheit zu erfahren", sagte Lina. "Ich weiß bereits, dass du unsterblich bist, Kaden, und ich kenne auch ganz genau den Weg, wie du es erreicht hast."

Bevor er antworten konnte, wich sie zurück.

Kaden schwor, ein Kribbeln in seiner Brust zu spüren. Diese verdammte Versuchung. Sie hatte ihn einmal berührt, und er war so erregt für sie, dass es weh tat.

"Warum bettelst du dann so um die Antwort?" verlangte Kaden, seine Hand glitt ihren Rücken hinauf, fuhr ihre Wirbelsäule entlang. Sie zuckte unter seiner Liebkosung. Er wusste, sie begehrte ihn genauso sehr wie er sie. Er würde sie in jede erdenkliche Position bringen. Wenn sie ihn nur ließe.

"Weil ich es persönlich von deinen Lippen hören will", antwortete Lina, wobei ihr Blick auf seine Lippen fiel.

Kadens erhitzter Blick traf auf den ihren. Er beugte sich vor. Er konnte fast hören, wie ihr Herz aussetzte. Seine Lippen streiften ihr Ohr. Sie umklammerte den Stoff seines Hemdes.

"Und wenn ich unsterblich bin?" flüsterte Kaden, und sein Atem kitzelte sie.

Lina wurde zu Wachs in seiner Hand. "Dann bist du es."

Kaden lächelte, drückte sacht ihre Taille und spürte die Straffheit ihrer Haut.

"Dann bin ich es", gestand Kaden.

"Du bist...?"

"Ich bin unsterblich, meine liebe Taube."