Können Sie ihn entführen

"Lina."

Lina drehte sich nicht um, als sie den Raum verließ. Mit der Eleganz einer Frau, die glaubte, das ganze Gebäude gehöre ihr und jeder schulde ihr etwas, schritt sie durch den Flur. Ihre Absätze klackten laut auf dem Boden, ein Geräusch so unverkennbar wie Wasser, das in heißen Öl prasselt. Sie warf einen Blick nach rechts und beobachtete den Sonnenuntergang.

Bis zum nächsten Morgen musste Lina ihrem Onkel eine unterzeichnete Heiratsurkunde vorlegen. Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, und sie zog die Stirn kraus.

"Es scheint, als müsste ich jetzt irgendeinen Fremden auf der Straße heiraten", sagte Lina zu sich selbst.

Es war ihre Entscheidung und falls sie es bereuen sollte, dann lag die Schuld ausschließlich bei ihr.

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Priscilla fühlte sich, als hätte die Welt sie vergessen. Sie beobachtete, wie Lina den Raum verließ und Kadens Geduld mitnahm. Sie fragte sich, was diese winzige Frau so sicher auftreten ließ.

Wie konnte sie dem Sturm trotzen, ohne vor Angst zu erzittern?

Sobald Priscilla den Namen "Lina" hörte, wusste sie, wer gemeint war – die Frau, die angeblich den jungen Meister mit Everett Leclare betrogen hatte.

Anfangs hielt Priscilla das für einen Witz, denn welche Frau würde es wagen, mit einem anderen Mann zu flirten, wenn Kaden in Reichweite war?

Nachdem sie Linas Verhalten beobachtet hatte, erkannte Priscilla ohne Zweifel, dass diese Frau für Kaden eine wichtige Rolle spielte. So etwas hatte sie in den zehn Jahren, in denen sie für Kaden arbeitete, noch nie erlebt.

"Was für eine Frau", murmelte Priscilla und beobachtete, wie Lina in der Ferne verschwand.

Priscilla fiel auf, wie aufrecht Lina ging, und doch wirkten ihre Schultern eingefallen. Priscilla erkannte, dass Lina sich in ihrer eigenen Haut nicht wohl fühlte.

"Was für eine Frau", sagte Sebastian leise zu sich. "Doch zum Staunen bleibt uns keine Zeit. Sie hat die Laune unseres jungen Meisters für den ganzen Tag verdorben. Ach was, gleich für die ganze Woche!"

Priscilla erstarrte. Verdammt! Wie konnte sie das nur vergessen? Misstrauisch drehte sie sich zu ihrem jungen, mit Kaffee bedeckten Meister um.

Selbst die eisigen Winde der Antarktis waren kein Vergleich zu Kaden Dehavens frostigem Blick. Seine Wut füllte den gesamten Raum und machte die Luft schwül und drückend. Es war schwer, hier zu atmen, geschweige denn zu stehen und etwas zu sagen.

"Ähm, Chef—"

"Ruhe."

Sebastian hielt inne. Trotz des Respekts, den er von allen Angestellten des Gebäudes genoss, trotz der vielen Leibwächter, die er kommandierte, und trotz all seiner Erfolge, wirkte er wie ein verlorener, kleiner Junge. So sehr fürchtete er den Chef.

Sebastian wippte nervös auf den Füßen. Die Stille im Raum war gespenstisch, wie in den Momenten vor einem Urteilsspruch. Niemand sagte ein Wort. Keiner wagte es.

Schließlich, nach einer schier endlosen Stille, öffnete Kaden den Mund.

"Holen Sie meinen Anwalt an die Leitung", forderte Kaden mit unterdrückter Wut.

Priscilla schluckte. Diese arme Lina Yang ... sie wusste nicht, was auf sie zukam.

Einmal eingeschaltet, gab es für das unüberwindbare Team von Anwälten kein Zurück mehr. Sie gewannen jeden Fall. Ohne Ausnahme leerten sie das Bankkonto des Gegners, bis zum letzten Cent.

Lina Yang, in all ihrer anmaßenden Pracht, würde für alles, was sie bekommen hatte, zur Rechenschaft gezogen werden.

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"Hey Isabelle, du hast doch gesagt, du hast einen älteren Bruder, nicht wahr?" rief Lina, als sie einen Fuß vor die Yang Enterprise setzte.

"Ja, der Arme, momentan ist er auf einem Blind Date. Sie haben ihn heute buchstäblich aus dem Bett entführt, gefesselt und in einen Helikopter geworfen, dann haben unsere verrückten Großeltern ihn quer durchs Land geflogen", plauderte Isabelle.

Isabelle zitterte, als sie sich an die verzweifelten Schreie ihres Bruders von heute Morgen erinnerte. Sie war in sein Zimmer gestürmt, nur um mit anzusehen, wie er aus dem Fenster gezogen wurde. Der Blick des Entsetzens in seinen Augen würde sie heute Nacht verfolgen.

"Nun, was hältst du davon, wenn ich deinem Bruder einen Vorschlag mache?" äußerte Lina.Isabelles älterer Bruder kam mir als Erster in den Sinn, als ich an Fremde dachte. Er war wohl auch der Einzige, der später Linas verrückte Absprachen vielleicht akzeptieren würde.

„Oh, ich kann dir seine Kontaktdaten geben, wenn du möchtest. Aber ich glaube, ich habe sie dir bereits geschickt", sagte Isabelle. „Allerdings bezweifle ich, dass er sein Handy bei sich trägt. Du müsstest warten, bis er heute Abend nach Hause kommt."

Lina überlegte, wie sie auf angemessene Weise Isabelles Bruder kennenlernen könnte.

„Kannst du ihn für mich entführen und ihn mir bis morgen früh vorbeibringen?", scherzte Lina.

„Ja klar, ich frage meine Großeltern, unter der Bedingung, dass ich für meinen Bruder ein superhübsches, intelligentes und perfektes Blind Date gefunden habe!", zwitscherte Isabelle.

„Das war doch ein Scherz."

„Oh." Isabelle blinzelte und sah von ihren gerade lackierten Nägeln auf. „Das ist aber enttäuschend."

„Isabelle!"

„Ein Scherz, ein Scherz!", lachte Isabelle und lehnte sich zurück. Eigentlich hatte ihr der Gedanke sehr gefallen. Wie schön wäre es, mit Lina verschwägert zu sein...

Isabelle hatte viele Freunde, aber niemanden wie Lina. Lina war unheimlich erfrischend. Isabelle hatte das Gefühl, sie könnte Lina alle ihre dunkelsten Geheimnisse anvertrauen, und Lina würde sie niemals verurteilen. Egal, was passierte.

„Etwas sagt mir, dass du gerade im Begriff warst, deine Großeltern anzurufen...", kommentierte Lina spitz.

Plötzlich bemerkte sie ein schwarzes Auto, das vor dem Eingang hielt. Überrascht blinzelte sie. Wer könnte das sein? Ein alter Geschäftsführer womöglich? Dann traute sie ihren Augen kaum.

Moment mal, ist das nicht der jüngste leitende Staatsanwalt in Ritan?!

„Was zum Teufel", keuchte Lina, als ein weiterer Volltreffer von einem Ehemann an ihr vorbeieilte.

Der Anwalt richtete seine Krawatte mit genervtem Ausdruck im hübschen Gesicht. Er hatte ernste Züge, wirkte immer seriös, die Brauen waren ärgerlich zusammengezogen. Er war der Typ kalter und professioneller Mann, bei dem sich die Frauen fragten, wie wohl seine weniger strenge Seite aussah.

„Was? Was ist los?", drängte Isabelle. „Siehst du gerade eine heiße Frau auf der Straße? Oh mein Gott, schick mir ein Bild, beeil dich!"

„Ich… ich glaube, ich habe gerade den jüngsten leitenden Staatsanwalt von Ritan an mir vorbeieilen sehen", murmelte Lina. Sie beobachtete, wie er überhastet in den Aufzug für die Angestellten sprang, während seine gepflegten Haare perfekt an Ort und Stelle blieben und er seine Krawatte nachjustierte.

„Das klingt so heiß. Ich würde liebend gerne wissen, was er mit seiner Krawatte alles anstellen würde", seufzte Isabelle sehnsüchtig und fächelte sich Luft zu bei dem Gedanken an einen gutaussehenden Anwalt, der sie fesseln würde.

„Ja, und ich bin im Begriff, um seine Hand anzuhalten", sagte Lina und legte auf, als sie gerade das Gebäude wieder betreten wollte.

Kurz darauf klingelte ihr Telefon und Lina sah, dass Isabelle anrief. Sie ging ran.

„Was gibt's?", fragte Lina.

„Tu meinem armen Bruder das nicht an, Lina! Hab Mitleid mit ihm und geh auf ein Blind Date, tu so, als wärst du seine Freundin oder so", rief Isabelle ins Telefon. „Du bist die einzige Freundin, die dazu bereit wäre und es nicht merkwürdig fände!"

Lina hielt inne. „Ist er so verzweifelt, dass er nicht von deinen Großeltern entführt werden möchte?"

„Nach den heutigen Vorfällen ist er wahrscheinlich für den Rest seines Lebens traumatisiert und so verzweifelt, wie ein Mann nur sein kann", entgegnete Isabelle.

Lina seufzte. Der Anwalt war sowieso verschwunden. Sie wollte den Sicherheitsleuten keinen weiteren Ärger bereiten.

„Gut, dann schick mir deinen Bruder morgen früh beim ersten Morgengrauen", sagte Lina. „Und keine Minute später."

„Wachst du überhaupt jemals vor dem Nachmittag auf?", fragte Isabelle.

„Keine. Minute. Später."

„Wie du meinst~" Isabelle kicherte und legte auf, ein schelmisches Lächeln auf dem Gesicht. Endlich eine passende Frau für ihren Bruder!