Sie, die entkam

"Das kann doch nicht dein Ernst sein", entfuhr es Sebastian. Er fühlte sich, als stecke er zwischen einem Felsen und einem harten Ort fest - oder wie ein Kind, das kolossal genervt davon ist, seine Eltern zum wiederholten Male heute streiten zu hören.

"Anakin, benutz nicht diesen Ton", murmelte Sebastian und umklammerte sein Tablet fester.

Er betrachtete den aufgebrachten Anwalt – wie er so an seinem eigentlich freien Tag hierher gehastet war. Es war gut, dass Anakin diesmal in seiner Stadtwohnung und nicht auf dem Landhaus war.

"Versuch doch mal, an deinem freien Tag hier aufzutauchen und so eine Forderung zu erhalten, die weit über dein Fachgebiet hinausgeht", schnauzte Anakin und schob seine dünne Brille mit dem Mittelfinger höher, während er die Geste direkt an den einfältigen Sekretär richtete.

"Streng genommen geht es immer noch um einen Vertrag, also ist es wirklich nicht außerhalb deines Fachbereichs, wenn du mich fragst", gab Sebastian zurück.

Anakin ließ ein höhnisches Lachen hören und warf Sebastian einen Blick zu, der offenbarte, dass es ihm zuwider war, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln.

"Das sagst du so leicht dahin, weil du alles tun würdest, was der Boss dir sagt, selbst wenn er dir befehlen würde, von diesem Gebäude zu springen", fauchte Anakin, während er immer wieder seine Brille zurechtrückte.

Sebastian kannte diese schlechte Angewohnheit Anakins nur zu gut. Üblicherweise warf Anakin seine Brille hin, verfing sich in einem Disput und stritt, bis er als Sieger hervorging. Keine einzige Person konnte es mit diesem berüchtigten Spitzenanwalt aufnehmen, niemand – außer ihrem Boss.

"Du befindest dich auf meiner Gehaltsabrechnung, also schreibst du das, was ich dir sage", sagte Kaden gelassen.

Anakin fasste seine Brille fester, rang mit dem Gedanken, sie einfach auf den Boden zu schleudern. Aber er biss die Zähne zusammen, schob seine Brille ein weiteres Mal zurecht und richtete seinen Anzug.

"Wenn du mir nicht mehr zahlen würdest, als es die Big Four je könnten, wäre ich nicht so nachgiebig", presste Anakin hervor, zog seinen Laptop hervor und begann wütend in die Tasten zu hauen.

Klick. Klack. Klick. Klack.

"Deine Reparaturen verschlingen schon die Hälfte deines Gehalts", spottete Sebastian, als Anakin seinen Frust an der armen Tastatur ausließ.

"Und zum Teufel, zerbrich diesmal nicht wieder deine Brille. Ich glaube, du bist schon bei der sechsten diesen Monat", schnaubte Sebastian.

Anakin warf Sebastian einen tödlichen Blick zu und wünschte sich, der Mann würde auf der Stelle zusammenbrechen. Aber er behielt die Fassung, tippte weiter, beendete die Arbeit in wenigen Minuten, und im nächsten Augenblick begann der Drucker zu rattern und Papier auszuspucken.

"Da." Anakin legte seinen Laptop beiseite, straffte die Krawatte und glättete seinen Anzug. Ausdruckslos deutete er auf den Vertrag, der neben dem Drucker lag.

"Genau nach deinen Wünschen", sagte Anakin.

Sebastian trat an den Drucker heran, musterte den Vertrag, für den eine ganze Vorstandssitzung abgesagt worden war. Zwanzig Direktoren wegen zwanzig Blatt Papier zu Hause – welch ein Mann.

"Kein Wunsch zu wenig, kein Wunsch zu viel", erklärte Anakin, genau wie der Boss es ihm aufgetragen hatte.

Sebastian brachte den Vertrag mit beiden Händen zu seinem Chef. Kaden nahm sie mit einer Hand entgegen und nickte dem Sekretär anerkennend zu.

"Kann ich jetzt bitte endlich meinen freien Tag haben, ohne in dieses verdammte Gebäude gehetzt zu werden?" fragte Anakin, ungeduldig mit dem Fuß tippend.

"Bei diesem Geklopfe hinterlässt du noch eine Delle im Boden", fauchte Sebastian. "Nerv mich nicht."

Anakin tippte noch stärker.

"Nun?", fragte Anakin seinen Boss, der immer noch nicht reagiert hatte.

Sebastian wünschte, er hätte den Mumm, mit dem Chef so zu sprechen wie Anakin. Aber niemand hatte Anakins unverbrüchlichen Mut, niemand außer dem Mann selbst. Manchmal fragte sich Sebastian, ob Anakin zum Frühstück Kinder verschlinge, um so unerschrocken zu sein.

"Vielleicht", sagte Kaden und blätterte durch die Dokumente.

"Vielleicht?", erwiderte Anakin scharf und hob die Augenbrauen.

"Hab ich gestottert?", entgegnete Kaden ohne von den Dokumenten aufzuschauen. Er wollte sicherstellen, dass jede Klausel sorgfältig aufgenommen war.

Wenn Anakin nicht so kompetent wäre, hätte Kaden ihn erst gar nicht eingestellt. Noch einmal bewies Anakin, weshalb er an der Spitze seiner Kanzlei stand und Angebote von den Big Four erhalten hatte.

Anakin war einer der gefragtesten Anwälte seiner Zeit und entschied sich, ausgerechnet bei der DeHaven Conglomerate zu arbeiten. Seine Kollegen hatten angenommen, er würde im Rechtswesen Maßstäbe setzen.

In Wahrheit wollte Anakin einfach nur ein üppiges Gehalt und ein komfortables Zuhause. Alles für seine Eltern, die sich aufgerieben hatten, um sein Jurastudium zu bezahlen.

"Entspricht es deinen Erwartungen?", fragte Anakin und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust.

"Es ist in Ordnung", sagte Kaden, legte den Vertrag beiseite und erhob sich.

Es war Zeit, jene zu jagen, die entkommen war.