Bringt die Schuldigen

"Warum hat Eure Majestät noch nie das Gesicht seiner eigenen Tochter gesehen?"

Marthas Frage erinnerte König Armen an die bittere Wahrheit über seine jüngste Tochter. Wie unglücklich er war, dass er das Gesicht seiner Tochter nicht ein einziges Mal hatte sehen können. Als ihr Vater bedauerte er das mit am meisten in seinem Leben.

Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie als Neugeborenes zum ersten Mal in den Armen hielt, und obwohl er sich sehnlichst wünschte, einen Blick auf ihr Aussehen zu erhaschen, hatte er nie die Gelegenheit dazu. Der Schleier über der unteren Gesichtshälfte war schon lange da, um sie zu schützen, und er wagte nicht, ihn abzunehmen.

Alles, woran er sich erinnerte, war dieses Paar unschuldiger lila Augen. Es waren die schönsten Edelsteine, die er je gesehen hatte, und sein Herz war auf den ersten Blick erobert worden. Seltsamerweise waren diese schönen Augen, an die er so gerne dachte, genau die Augen, die die Leute dazu brachten, sie zu verfluchen und sie eine Hexe zu nennen.

Die Unschuld in diesen Augen, die scheinbar nach der Fürsorge und Liebe ihres Vaters verlangten, ihre sanfte, weinende Stimme und die Art, wie die winzige Handfläche des Babys seinen Finger umschloss - das waren die besten Erinnerungen, die er an seine jüngste Tochter Seren hatte.

Wehmütig sagte der König: "Ich werde Cian sagen, dass er sie nie ohne den Schleier sein lassen soll. Er sorgt sich um sie, also wird er meinem Wunsch gehorchen."

Martha senkte seufzend den Kopf. "Was ist, wenn meine Herrin ihn eines Tages abnimmt? Wir wissen, wer sie wirklich ist, und keine gewöhnliche Macht oder Magie kann sie lange zurückhalten. Sie ist jetzt noch naiv und jung, also gehorcht sie, was wir sagen, aber es wird eine Zeit kommen, in der sie anfängt, selbst zu denken und zu tun, was sie will."

Ihre Worte verstärkten die Sorgen des Königs. "Es ist mir egal, wer sie ist. Für mich ist und bleibt sie meine Tochter, und ich muss sie beschützen."

"Sie einzusperren und ihr die Freiheit zu nehmen, ist nicht der richtige Weg, sie zu schützen, Eure Majestät. Es wird sie nur schwach machen, unfähig, sich zu verteidigen, wenn es an der Zeit ist, dass sie sich den Schwierigkeiten ihrer Identität stellt. Als sie jung war, hat alles gut geklappt, aber jetzt ist sie erwachsen geworden und sucht nach dem Sinn ihres Lebens und ihrer Zukunft."

"Ihre Zukunft kann nicht wie die anderer gewöhnlicher Mädchen sein", entgegnete der König von Abetha grimmig.

"Wir wissen nicht, was ihre Zukunft bringt, aber angesichts der Tatsache, dass sie geboren wurde, bin ich sicher, dass ihr Leben für eine größere Sache bestimmt ist."

Da sich das Gespräch mit Martha im Kreis drehte, musste sich der König die schmerzenden Schläfen reiben. "Gibt es keinen anderen Weg? Was schlägst du vor, was ich tun soll?"

"Eure Majestät, bitte lasst die dritte Prinzessin frei und erlaubt ihr, mit den Menschen zu verkehren", schlug Martha vor.

Der König lehnte den Vorschlag sofort ab. "Unmöglich! Was, wenn sie ihr etwas antun?"

"Das können sie nicht. Das haben die heutigen Ereignisse gezeigt. Ihre Flüche sind dazu da, sie zu schützen."

Der König seufzte, als er sich an seine eigenen Erfahrungen in jungen Jahren erinnerte. Als jemand, der in das Königshaus von Ilven hineingeboren wurde, hatte der junge Armen unzählige Menschen aus allen Gesellschaftsschichten kennengelernt. Selbst nachdem er den Thron bestiegen hatte und König von Abetha geworden war, war sein Leben aufgrund der Machtkämpfe innerhalb und außerhalb des Königreichs nie glatt verlaufen. Die harte Realität in dieser so genannten Menschenwelt könnte für seine jüngste Tochter zu viel des Guten sein. "Die Menschen sind bösartige Kreaturen. Sie sind zu allem fähig."

"Die Lösung ist, sie an der Seite von jemandem zu halten, und dieser Jemand muss eine Person sein, der wir vertrauen können, dass sie in der Lage ist, sie zu beschützen", sagte Martha.

Ihre Aussage verwirrte den König. Er konnte nie zulassen, dass jemand an der Seite seiner Tochter war. Martha war eine Ausnahme.

"Was meinst du?", fragte er kalt.

"Jemand, der ihr gegenüber loyal ist, so wie wir es sind, und der sich nicht darum schert, wer sie ist. Außerdem sollte diese Person bereit sein, ihr Leben für sie zu opfern", antwortete Martha.

"Wo können wir diese Person finden?", fragte der König.

"Wir brauchen eine solche Person nicht zu finden. Lassen wir das Schicksal seinen Lauf nehmen. Wer auch immer es ist, er wird sie von selbst finden."

König Armen dachte einen Moment lang über ihre Worte nach. Martha war jemand, der sich mehr um Seren kümmerte als um ihr eigenes Leben, und so vertraute er allem, was sie für seine Tochter beschloss.

"Ich werde darüber nachdenken, was du gesagt hast", versicherte der König.

"Dann, Eure Majestät, bitte ich um Entschuldigung. Ich sollte mich verabschieden, denn meine Herrin ist bereits allein und verängstigt", sagte Martha.

Der König nickte leicht und erteilte ihr die Erlaubnis zu gehen.

Martha verbeugte sich, verließ den Raum, und König Armen vertiefte sich wieder in Gedanken um das Wohl seiner jüngsten Tochter.

Etwas später betraten zwei betagte Beamte den Saal und verneigten sich vor dem beunruhigten König. Der eine war ein Mann mit grauem Haar in einer dunkelblauen Uniform, sein Begleiter wirkte mit seinem langen weißen Bart und den Brillengläsern sehr gelehrig.

Es waren Sir Berolt, der Kommandeur der Ritter, und Lord Eudes, der treue Berater des Königs – die loyalsten Männer des Königs von Abetha.

"Eure Majestät sieht besorgt aus", stellte Lord Eudes fest, nachdem er sich leicht geräuspert hatte.

König Armen nickte knapp und wandte sich an Sir Berolt. "Ihr sagtet, der König von Megaris hat die dritte Prinzessin gerettet. Weiß er, wen er da gerettet hat?"

"Ich bin nicht sicher, aber damals hat er sich nicht darum bemüht nachzufragen. Es scheint eine freundliche Geste gegenüber einer schwächeren Person gewesen zu sein", antwortete Sir Berolt.

Ein Seufzer der Erleichterung entwich König Armen. "Lasst ihn nicht wieder in die Nähe des Turmes kommen", befahl er.

"Darf ich fragen, warum Eure Majestät so besorgt sind und ihn nicht bei ihr sehen lassen wollen?", erkundigte sich Lord Eudes.

"Es heißt, er sei des Teufels Sohn, und wir haben alle von seiner Grausamkeit gehört. Er ist bekannt dafür, sich gegen andere zu stellen und etwas zu begehren, das er nicht haben sollte. Ich möchte nicht, dass meine Tochter eines seiner kapriziösen Spielzeuge wird. Meine Tochter ist keine Schau zu seiner Unterhaltung."

Die zwei verstanden die Sorge des Königs. "Verstanden, Eure Majestät."

Sir Berolt wandte sich mit einer Frage an den König: "Was sollen wir mit dem Vorfall des Feuers während der Verlobungszeremonie der zweiten Prinzessin tun?"

"Habt ihr den Schuldigen gefasst?", fragte der König.

Sir Berolt nickte. "Unsere Ermittlungen ergaben, dass eine Dienerin aus den Gemächern der Königin verantwortlich war. Sie hat gestanden, dass sie die Hexe hasst und aus eigenem Antrieb gehandelt hat."

König Armen seufzte erneut und schloss die Augen. Er konnte die Wahrheit klar erkennen, musste sie aber wie immer zum Wohle des Friedens beiseitelassen. 'Menschen sind wahrlich bösartige Kreaturen.'

"Bestraft sie, wie sie es verdient", befahl der König.

"Ja, Eure Majestät."

"Ergreift jeden, der für das heutige Geschehen verantwortlich ist", befahl der König, während seine Stimme kälter wurde. "Vielleicht war ich in letzter Zeit zu nachsichtig, sodass die Menschen von Abetha vergessen haben, was es bedeutet, einer Prinzessin des königlichen Hauses von Ilven zu schaden."

"Das wird nicht einfach, denn die Mitglieder des Hofes werden die dritte Prinzessin wieder für das verantwortlich machen, was sie ihrer Meinung nach ist. Wenn wir alle Beteiligten bestrafen, nicht nur den Brandstifter, dann wird die öffentliche Meinung sich mit dem Vorhaben Eurer Majestät gegen die königliche Familie wenden", sagte Lord Eudes ehrlich.

"Dieses Mal werde ich nicht zögern, dies zu benutzen", bemerkte Sir Berolt kalt und umfasste den Griff seines Schwertes.

Lord Eudes blickte auf den barbarisch wirkenden Sir Berolt, der nur nach einem Grund suchte, sein Schwert zu ziehen.

"Das Königreich besteht aus Adligen und Gemeinen zusammen, nicht nur aus dem König, also müssen wir die Hinrichtung von Menschen sorgfältig abwägen. Die dritte Prinzessin ist am Hohe schon immer ein heikles Thema gewesen. Es wäre unklug, denen eine Gelegenheit zu bieten, die darauf warten, Eure Majestät zu stürzen und den Thron an sich zu reißen."

"Sobald wir den königlichen Hof gesäubert haben, wird es niemand mehr wagen, sich gegen Eure Majestät zu stellen", verkündete Sir Berolt entschlossen.

"Dann wird niemand mehr Vertrauen in Eure Majestät und in Kronprinz Cian haben. Angst zu verbreiten ist nicht der richtige Weg, mit ihnen umzugehen. Wenn wir ihnen eine Chance geben, werden sie in Zukunft eine Rechtfertigung finden, sich gegen die Krone zu erheben", wiederholte Lord Eudes geduldig, mit ruhiger Miene gegenüber dem starrsinnigen und kühlen Sir Berolt.

Diese beiden Männer waren große Stützen Abethas, standen hier jedoch wie Eis und Feuer einander gegenüber, unfähig, sich von der besten Vorgehensweise zur Lösung der internen Streitigkeiten im Königreich zu überzeugen.

König Armen ging zum Thron und nahm regal darauf Platz. Sein Antlitz war frostig wie Eis.

"Ich werde entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Egal welchen Stand sie haben, bringt mir einfach die Schuldigen."