Jungfräuliche Lippen

Als Arlan Drayces Zimmer betrat, fand er seinen Freund stehend vor dem Fenster vor. Drayce starrte in den sternübersäten Nachthimmel und schien in Gedanken verloren.

"Seit unserer Rückkehr vom Marktplatz bist du auffällig schweigsam. Ist etwas vorgefallen?", erkundigte sich Arlan, während er es sich auf einem sorgsam gefertigten Holzstuhl mit weichem roten Polster gemütlich machte.

Drayce drehte sich zu ihm um. "Ich möchte etwas über die dritte Prinzessin von Abetha erfahren."

Die Frage verwunderte Arlan und weckte seine Neugier: Warum war sein Freund plötzlich an einer Fremden interessiert? Noch dazu an einer Adeligen. Aber wenn er an Drayces Temperament seit ihrer Jugend dachte, erkannte er schnell, dass es eigentlich gar nicht so überraschend war.

Sein Freund, immer auf der Suche nach Ärger – würden seine Instinkte ihn je im Stich lassen, wenn es darum ging, sich für Dinge zu interessieren, die normale Menschen nie zu beachten wagen würden? Drayce war wie ein Raubtier; je mehr man vor ihm flieht, je mehr man vor ihm verbirgt, umso mehr interessierte er sich und wollte er mehr wissen.

Für ihn war es mehr als ein Spiel. Es war eine Jagd.

Arlan atmete tief durch. "Was ist mit ihr? Sie ist eine Prinzessin, die dritte Tochter von König Armen."

"Wirst du aufhören, so ahnungslos zu tun, oder soll ich dich aus diesem Fenster werfen?", hob Drayce fragend die Augenbraue.

Arlan sah, dass Drayce es ernst meinte, und schnell versuchte er die Situation zu entschärfen, indem er mit erhobenen Händen sprach: "Beruhige dich, beruhige dich. Wenn du das machst, werden so viele junge, schöne Frauen, die mein ansehnliches Gesicht noch nicht gesehen haben, zu Witwen. Wie kannst du nur so grausam sein? Lass mich sie wenigstens zuerst treffen, damit sie wissen, dass es mich gibt, diesen gutaussehenden Arlan!"

Drayce runzelte die Stirn. "Schlechter Scherz!"

Dann, mit glühend roten Augen, näherte sich Drayce Arlan mit einem Blick, der eine gefährliche Absicht verriet.

Er hatte tatsächlich vor, ihn zu werfen!

"Warte! Warte!" Arlan stand auf und schützte sich mit dem Stuhl zwischen ihnen.

Drayce hielt inne und dachte, er hätte seinen Freund genug eingeschüchtert, um alle Antworten zu bekommen, die er wollte.

Doch Arlan lächelte herausfordernd. "Mein liebster Freund, ich gebe gerne mein Leben für dich. Aber bevor du mich aus dem Fenster wirfst... möchte ich, dass du mich küsst. So kann meine ruhelose Seele sich rühmen, die unberührten Lippen des gefährlichsten und schönsten Mannes dieses Kontinents geküsst zu haben."

Drayces Gesicht verdunkelte sich, dunkler als die Nacht draußen. "Das kann doch nicht dein Ernst sein", rief Drayce.

"Ich meine jedes Wort." Arlan lächelte wie eine schüchterne, verliebte Frau, aber seine Augen lachten über Drayces grimmiges Gesicht. "Es ist mein Lebenswunsch, der Erste zu sein, der den Sohn des Teufels küsst."

Weil Arlan ihn weiterhin neckte, griff Drayce nach seinem Schwert, das im Schwertständer nahe der Wand stand.

"Um mich zu küssen, müsstest du eine Frau sein. Also sollten wir dich zuerst in eine Frau verwandeln."

Drayce zog das Schwert und drehte sich mit der Spitze zu Arlan.

Das Bild versetzte Arlan einen Schrecken, obwohl er wusste, dass sein Freund so etwas niemals ernsthaft tun würde.

"Lass das Schwert stecken. Keine Mühe nötig." Arlan wich zurück, suchte Schutz hinter einem weiteren Stuhl, gleichzeitig einen Holztisch als Barriere nutzend. Die Freunde waren bereit, sich um den Tisch herum zu bewegen.

Drayce blieb stehen, mit erhobenem Schwert, bereit zum Angriff. "Einmal gezogen, lechzt mein Schwert nach Blut, bevor es wieder in die Scheide zurückkehrt."

Drayce scherzte nicht mehr und Arlan schluckte. "Okay, ich erzähle dir von ihr. Aber steck das Schwert zurück."

"Ich erfahre es auch von jemand anders. Sicher gibt es andere, die ihr Leben zu sehr schätzen, als dass sie Informationen vor mir verbergen würden."

Unwillkürlich bewegten sich Arlans Hände, um die Körperregion zu schützen, die Drayce zu verletzen drohte.

"Ich liebe mein Leben sehr; jetzt steck das Schwert zurück."

Drayce hob das Schwert an und Arlan schloss die Augen. Dann hörte er, wie das Schwert durch die Luft sauste und auf etwas traf.

Als Arlan die Augen wieder öffnete, sah er, dass die scharfe Schwertspitze in der Wand steckte. Die Klinge zitterte noch, und das Geräusch ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.

Drayce zuckte mit den Schultern. "Ich sagte dir, mein Schwert will Blut kosten."

Arlan betrachtete die Wand genauer und bemerkte eine kleine Mauereidechse, die vom Schwert durchbohrt war.

"Du hättest mich fast erschreckt." Arlan atmete erleichtert aus, wurde aber sogleich von einem Paar roter Augen fixiert.

"Nächstes Mal ersetz ich die Eidechse vielleicht durch deins", warnte Drayce, während sein Blick suggestiv an Arlans Körper hinabwanderte.