Kapitel 2

Als das entstellte Gesicht des Mannes offenbart wurde, entfuhr einigen Gästen ein Schrei. Dicke Narben, zerklüftet und ungeordnet, bedeckten die eine Hälfte seines Antlitzes. Es wirkte, als habe jemand mit einem Messer wahllos Schnitte zugefügt. Es fiel schwer, hinzusehen, und Angelika wandte ihren Blick rasch ab.

Andere Gäste starrten ihn an, flüsterten untereinander.

"Sollen wir weiterfeiern", gab der König sein Einverständnis, und bald schon waren die Flüstertöne in der Musik ertränkt.

"Wer ist das?" wollte Veronika wissen.

Hilde hatte ihre Informationen bereits von ihrem Vater erhalten: "Die sechs Männer, die mit dem König kamen, gehören zu den mächtigsten des Königreichs, gleich nach dem König selbst. Sie sind Arm, Auge und Ohr des Königs. Am besten, du verdrehst einem von ihnen den Kopf," raunte sie den letzten Satz.

Vesnas Augen strahlten. "Sie sehen prachtvoll aus", bemerkte sie und musterte sie fasziniert, bis sie den Narbengesichtigen erspähte. "Was ist mit seinem Gesicht passiert?"

Hilde zuckte mit den Achseln. "Niemand weiß es genau, aber er gilt als erbittertster Kämpfer und stärkster Krieger. All die Kriege und Schlachten, die Feinde, denen er begegnet ist, dürften ihre Spuren hinterlassen haben", erklärte sie.

"Aber warum sollten Feinde sein Gesicht verunstalten statt ihn zu töten?" grübelte Vesna.

"Vielleicht sah er einst genauso stattlich aus wie die anderen neben ihm. Eifersucht vielleicht", scherzte Hilde.

"Man sagt, er sei so geboren worden", warf Natascha ein. "Schon vor seiner Geburt verflucht."

Hilde schüttelte den Kopf. "Das glaubst doch wohl selbst nicht? Die Leute schwatzen viel."

Angelika glaubte weder an Flüche noch daran, dass es eine angeborene Fehlbildung war. Das waren Narben, zugefügt durch Gewalt. Manche wirkten neuer als andere, was ihr die Vermutung gab, dass sie nicht alle zur selben Zeit entstanden waren.

Natascha zuckte mit den Achseln und fächelte sich Luft zu.

"Nun, ich bin einfach erleichtert, dass der König noch besser aussieht, als ich es mir vorgestellt habe. Ich werde meinen Vater bitten, mich ihm vorzustellen. Entschuldigt mich", sagte Hilde, richtete ihr Haar und trat zu ihrem Vater.

Natascha schnaubte verächtlich. "Sie hält viel von sich."

"Möge sie es versuchen; vielleicht hat sie Erfolg. Männer bleiben Männer", meinte Veronika.

Natascha rollte mit den Augen.

Angelika wusste, dass Natascha es war, die auf einen mächtigen Mann aus war, und nun, wo Hilde einen Vorteil hatte, schien sie verbittert.

Hilde näherte sich ihrem Vater, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin nahm er ihre Hand und geleitete sie zum König. Angelika konnte ihre Worte nicht vernehmen, aber sicher führte Hildes Vater die Vorstellung durch, als der Blick des Königs auf ihre Freundin fiel, die einen Knicks machte. Er nickte, uninteressiert wirkend, und sagte einige Worte.

Angelika und ihre Freundinnen beobachteten gespannt, was sich weiterhin ereignen würde. Doch Hilde und ihr Vater zollten dem König nochmals Respekt und kehrten zurück.

"Ich habe es euch gesagt", prahlte Natascha.

"Es war ihr erster Versuch. Das bedeutet nichts", verteidigte Veronika Hilde.

"Sie sollte ihr Glück bei dem Narbengesicht versuchen", witzelte Vesna, was sie und ihre Schwester zum Lachen brachte.

"Angelika." Angelikas Vater unterbrach ihr Gelächter und sie begrüßten ihn.

Er erwiderte die Begrüßung und zog Angelika dann beiseite.

"Was gibt es, Vater?" fragte Angelika.

"Komm mit mir", sagte er, nahm ihre Hand und führte sie fort.Angelika wusste, was bevorstand. Er wollte sie einem weiteren Verehrer präsentieren.

"Vater, bitte", protestierte sie.

"Blamiere mich nicht, Angelika", warnte er, während er sie zum Thron führte.

"Vater. Was machst du da?", fragte sie in Panik.

"Schh." Er drückte ihre Hand, um sie zu beruhigen.

Oh nein. Sie hatte befürchtet, dass die Person, die er ihr vorstellen wollte, etwas Besonderes sein müsste, doch niemals hätte sie gedacht, dass es der König selbst sein würde.

Ihr Herz machte einen Sprung. Ihr Vater hatte sie in eine Falle gelockt. Wie konnte sie dem König eine Absage erteilen?

"Eure Majestät." Ihr Vater verbeugte sich, als sie sich dem Thron näherten.

Angelika blieb erstarrt stehen, bis ihr Vater sie am Arm zog, als Zeichen, dass auch sie ihre Ehrerbietung erweisen sollte.

In ihrem Schockzustand vollführte Angelika eine knicks.

"Eure Majestät, sofern Ihr erlaubt, möchte ich Euch meine Tochter Angelika vorstellen", sagte ihr Vater.

Der königliche blaue Blick wandte sich ihr zu, und Angelika erstarrte. Aus der Nähe betrachtet war er noch stattlicher, doch es war nicht allein seine überirdische Schönheit, die ihn ungewöhnlich machte. Es war noch etwas anderes, etwas, das sie nicht ganz fassen konnte. Ihr Körper und ihr Verstand warnten sie vor einer Gefahr, obwohl nichts dafür sprach.

Der König schmälerte seine Augen. "Angelika. Ein schöner Name. Passend zu einem engelsgleichen Antlitz." Seine Stimme war weich.

Ihr Vater lachte erleichtert auf, froh darüber, dass der König Gefallen an ihr zu finden schien. "Sie hat das Glück, nicht nach mir gekommen zu sein."

Der König lächelte.

"Sie ist eigenwillig und noch unvermählt. Ich habe sie vielen Männern vorgestellt, doch keiner schien gut genug zu sein", fuhr ihr Vater fort.

Angelika wünschte, ihr Vater würde sich auf die Zunge beißen und daran ersticken. Zumindest für einen Moment.

"Ich habe sie ganz alleine großgezogen. Es ist nicht leicht gewesen mit den Mädchen."

Der König nickte und lauschte geduldig den Worten ihres Vaters.

"Ich versuche nur, meine Pflicht als Vater zu erfüllen."

Angelika wünschte, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen. Ihr Vater musste lernen, wann Schluss sein sollte. Er gab sich zu große Mühe, aber der König hörte schon nicht mehr zu. Sein Blick war auf sie geheftet, und er betrachtete sie mit einer intensiven Neugier, die sie beunruhigte.

Es war nicht die Art von Aufmerksamkeit, an die sie gewöhnt war. Dieser Mann starrte sie nicht an, weil er von ihrer Schönheit ergriffen war. Er war aus einem anderen Grund neugierig, aber welchem?

"Angelika, würdest du mir die Ehre erweisen, mit mir allein zu Abend zu essen?", fragte er.

Sowohl die Frage als auch die Art, wie er sie stellte, überraschten sie. Er sprach sie nicht formell an. Er nannte nur ihren Namen, und der Zusatz "allein" ließ viele Gedanken in ihrem Kopf kreisen.

Er war der König. Er konnte tun und lassen, was er wollte.

Angelika wollte nicht allein mit ihm sein, egal, wie attraktiv er war.

"Wie könnte ich Euer Angebot ablehnen, Eure Majestät?" antwortete sie.