Kapitel 12

Angelika konnte nicht fassen, dass ihr Vater drohte, sie aus dem Haus zu werfen und sie von ihrem Bruder zu trennen. Sie wusste, dass er manchmal grausam sein konnte, aber das war eine ganz neue Stufe der Gefühllosigkeit. Was sollte sie nur tun?

Im Bett wälzte sie sich hin und her, der Schlaf wollte einfach nicht kommen.

"Ist etwas nicht in Ordnung?" fragte William, der neben ihr schlief.

"Nein", log sie.

Obwohl sie ihm den Rücken zukehrte, spürte sie, dass ihr Bruder ihr nicht glaubte.

"Zwingt Vater dich, Sir Shaw zu heiraten?"

"Ja", antwortete sie.

Er schwieg einen langen Moment. "Ich habe dir gesagt, wir kommen ohne ihn besser zurecht."

Angelika drehte sich zu ihm um, beunruhigt von seinem Kommentar.

"William, er tut nur, was er für das Beste hält. Die Wahrheit ist, ich muss heiraten", erklärte sie.

"Dann sollte er jemanden finden, der dir zusagt."

Das war genau das Problem. Sie war nie zufriedenzustellen.

"Es dauert zu lange, jemanden zu finden, mit dem ich zufrieden sein könnte, und Vater wird ungeduldig."

"Du musst nicht versuchen, mir ihn sympathisch zu machen. Mir reicht es, wenn ich nur dich mag", sagte William.

Zuerst überraschten Angelika seine Worte, aber dann kannte sie ihren Bruder. Er konnte die Absichten der Menschen erkennen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst waren.

Sie streichelte ihm über das Haar. "Alles wird gut werden."

Er schloss seine Augen, während sie weiter sein Haar strich. Schließlich schlief er ein.

Angelika blieb wach und überlegte, was sie tun sollte. Vielleicht sollte sie zum König gehen, aber was dann? Es hatte keinen Sinn, ihn aufzusuchen, solange er sie nicht zu sich rief.

Wo war er jetzt, wenn sie doch so sehr wünschte, er würde sie rufen?

Plötzlich hörte sie draußen das Rumpeln einer Kutsche, gefolgt vom lauten Gesang ihres Vaters.

Angelika schob die Decke zur Seite und schaute aus dem Fenster. Ihr Vater taumelte zum Eingang. Er war schon wieder betrunken.

Angelika zog ihren Morgenmantel an und beschloss, nach unten zu gehen, um ihren Vater abzufangen, bevor er mitten in der Nacht Unruhe stiftete. Im Flur angekommen, wartete sie darauf, dass er hereinkam.

Der Geruch von Alkohol brachte sie zum Rümpfen der Nase, als er eintrat und laut sang.

"Vater, es ist spät", sagte sie zu ihm.

Er hielt inne und wandte sich ihr zu.

"Angelika!" rief er, als sei sie weit entfernt. "Komm her!"

Er winkte sie näher und Angelika trat zögerlich zu ihm. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und lehnte sich zu ihr vor. Der Gestank zwang sie dazu, durch den Mund zu atmen.

"Wir sind verloren", flüsterte er ihr ins Ohr. "Wir sind verloren. Der Teufel hat uns im Visier."

Angelika hatte ihn schon ein paar Mal vom Teufel reden hören.

"Vater, der Teufel war schon immer da", sagte sie zu ihm.

Er lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. "Aber hast du ihn je gesehen?", fragte er.

Angelika blickte in seine ängstlichen Augen.

"Ich habe", flüsterte er. "Ich habe ihn gesehen. Er ist ... erschreckend, aber er macht mir keine Angst. Nein, nein." Er schüttelte den Kopf und bewegte seinen Zeigefinger hin und her. "Ich werde ihn besiegen. Ich lasse nicht zu, dass das Böse über uns herrscht."

Er drängte sich an ihr vorbei. "Ich lasse das Böse nicht siegen", rief er.

"Was wirst du tun?", fragte sie, als er sich entfernte.

"Ich werde ihn töten."

"Den Teufel?"

"Ja."

Das war absurd.

"Und wie willst du das anstellen?", fragte sie und folgte ihm.

"Ich werde einen Weg finden", sagte er und warf sich auf das Sofa. "Ich werde einen Weg finden", wiederholte er, und begann dann zu schnarchen.

"Vater?"

Schläft er schon?Angelika seufzte, erschöpft von dem Verhalten ihres Vaters, und kehrte in ihr Zimmer zurück, um die verbliebenen Stunden vor dem Morgengrauen zu schlafen.

Am Morgen fühlte sich Angelika immer noch müde. Sie wollte nicht aufstehen, denn Aufwachen bedeutete, ihre Probleme zu bewältigen, und sie war noch nicht bereit dafür. Doch der Schlaf vertrieb ihre Sorgen nicht, und schließlich musste sie sich ihnen stellen.

"Seid Ihr krank, Mylady?" erkundigte sich Eva, ihre Dienerin, beim Kämmen ihres Haares.

"Nein. Warum?"

"Ihr seid sonst nie so spät aufgestanden."

"Ich bin lediglich müde", erwiderte Angelika. "Wo ist William?"

"Er ist in seinem Zimmer und vertieft sich ins Lesen."

Es tat Angelika leid, dass er wegen ihres Vaters alle Vorlesungen versäumte.

"Und Vater?"

"Er hat das Haus verlassen."

Hoffentlich nicht, um Unheil anzurichten. Angelika wusste nicht, was zu erwarten war. Würde er betrunken, verletzt oder gar nicht nach Hause kommen?

"Eine weitere junge Frau wurde heute Morgen tot aufgefunden. Was bloß in unserer Stadt vor sich geht, ist mir schleierhaft", äußerte Eva besorgt.

Auch Angelika war zunehmend beunruhigt. Sie mussten den Mörder bald finden, bevor noch weitere Frauen zu Schaden kämen.

"My Lady", Thomas klopfte an ihre Tür, sichtlich beunruhigt stand er am Eingang. "Lord Rayven ist hier. Er fragte nach Eurem Vater, doch ich informierte, er sei nicht zugegen. Nun verlangt er Euch zu sprechen."

Angelikas Herz rutschte ihr in die Hose. War ihr Vater nicht ins Schloss gegangen? Wo könnte er sein und warum suchte Lord Rayven nach ihm?

"Habt Ihr ihn eingeladen?" fragte sie.

"Ja, aber er hat abgelehnt und wartet draußen."

"In Ordnung, ich komme hinunter", sagte sie und atmete tief durch.

Haderte ihr Vater mit Problemen? Gedankenverloren ging Angelika hinaus, um Lord Rayven zu begegnen. Die Vorstellung, mit ihm sprechen zu müssen, machte sie unruhig.

Lord Rayven stand neben seinem Pferd. Er wirkte mit seiner dunklen Ausstrahlung und den feinen Kleidern einschüchternd. Man nannte ihn den Dunklen Lord, seitdem er ins Wolfsgehege gezogen war. Jetzt verstand sie den Namen.

Als sie sich näherte, richteten sich seine schwarzen Augen auf sie, und ihr Herz setzte aus, als sich ihre Blicke trafen. "Guten Tag, Mylord", verbeugte sie sich leicht.

Er schaute sie fest an, ohne sich zu bewegen.

"Kann ich irgendwie hilfreich sein?" fragte sie nach einer kurzen Stille.

Er versetzte sie in größere Unruhe als der König jemals könnte.

"Teilt Eurem Vater mit, dass er als Oberbefehlshaber der königlichen Armee Pflichten hat, deren Vernachlässigung Folgen nach sich ziehen wird."

Seine Stimme kam ihr merkwürdig vertraut vor, aber wo hatte sie sie nur gehört?

"Ich werde es ihm ausrichten", sagte sie.

Es war ihr klar, dass ihr Vater Ärger verursacht hatte.

"Und Euer Bruder..."

Oh nein! Was ist mit ihrem Bruder los?

"Er hat seine Vorlesungen versäumt."

"Er ist leider erkrankt, Mylord", log sie.

Lord Rayvens Blick wurde düster, beinahe so, als ob er wüsste, dass sie log.

"Wenn er darauf besteht, dass ich ihn unterrichte, so soll er wissen, dass Krankheit keine Ausrede darstellt, Vorlesungen zu missen."

Er wollte ihn unterrichten? Angelika war sprachlos. Ihr Bruder wäre entzückt, aber würde Lord Rayven ihm ein guter Mentor sein?

Moment, er hatte Krankheit als keine Ausrede bezeichnet.

"Wollt Ihr, dass er trainiert, obwohl er krank ist?"

"Nun, er liegt ja nicht im Sterben." Er nickte in eine Richtung hinter ihr.

Angelika blickte zurück und sah ihren Bruder auf der Veranda stehen.

Peinlich berührt, wandte sie sich wieder Lord Rayven zu. Dieser beachtete sie nicht und schwang sich auf sein Pferd.

"Sind Sie auf der Suche nach dem Mörder?", rief sie ihm noch hinterher, ehe er davonritt.

Er schaute auf sie herab, diesmal nicht verächtlich. "Man braucht nicht zu suchen, wenn die Menschen bereits entschieden haben, wer der Mörder ist." Mit diesen Worten ritt er davon.

Es dauerte einen Augenblick, bis Angelika die Tragweite seiner Worte begriff.