Kapitel 13

"Was hat Lord Rayven gewollt?" fragte ihr Bruder, als sie zurückkam.

"Morgen beginnst du mit deiner Ausbildung im Schloss", erklärte sie ihm.

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. "Wirklich? Hat er sich bereit erklärt, mich zu unterweisen?"

Angelika nickte.

Freude blitzte in den Augen ihres Bruders auf, aber sie verflog genauso schnell, und sein Gesichtsausdruck wurde traurig.

"Was ist denn?", fragte sie.

"Vater wird mich nicht gehen lassen", erwiderte er.

Angelika lächelte schief. "Er hat keine Wahl. Sicherlich hat Seine Majestät Lord Rayven gebeten, dich auszubilden. Also musst du ins Schloss gehen."

Und ihr Vater musste ebenfalls ins Schloss gehen. Was dachte er sich nur, seine königlichen Pflichten zu vernachlässigen? Die Strafe könnte empfindlich sein.

Was, wenn er auf der Jagd war, um jemanden umzubringen, den er für würdig hielt? Wenn er tatsächlich jemanden tötete, würden die Dinge unschön werden.

Angelika war über das Verhalten ihres Vaters langsam verzweifelt. Sie hatte sich sehr bemüht, dass ihr Vater und ihr Bruder miteinander auskamen. Sie hatte sogar versucht, seine Taten als Fürsorge darzustellen, damit ihr Bruder ihn nicht verabscheute. Viellicht wollte sie so auch sich selbst überzeugen. Während sie versuchte, die Familie zusammenzuhalten, schuf ihr Vater Unruhe.

Heute Abend war keine Ausnahme. Ihr Vater kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück, wieder einmal betrunken. Aber dieses Mal sang und schrie er nicht. Er wirkte traurig, als er sich auf das Sofa fallen ließ.

"Vater, sprich mit mir", flehte sie. "Warum tust du das?"

"Ich kann nicht schlafen", murmelte er. "Immer wenn ich meine Augen schließe, sehe ich seine Augen."

Angelika trat näher heran, um zuzuhören. Heute Abend redete er, und sie konnte seine Worte verstehen. Offenbar hatte er weniger getrunken als in den vergangenen Nächten.

"Wie sehen seine Augen aus?", fragte sie.

"Sie waren rot. Fast schwarz. Ausdruckslos." Er zitterte bei dem Gedanken daran und wandte sich ihr zu. "Das ist nicht verwunderlich. Er hat keine Seele", sagte er.

"Ist er derjenige, der die Frauen tötet?"

"Ja. Er ist ein Monster. Ein Dämon. Er nährt sich von diesen Frauen. Deshalb muss ich ihn töten, er wird sonst nur stärker mit jeder Seele, die er sich einverleibt."

Angelika runzelte die Stirn. Das klang alles so unwirklich, und dennoch wusste sie, dass in den Worten ihres Vaters eine Wahrheit steckte. Er konnte sich das nicht alles ausgedacht haben. Vielleicht übertrieb er, doch offensichtlich ging etwas Seltsames in ihrer Stadt vor.

"Und wie willst du ihn töten?"

"Ich finde einen Weg", sagte er und legte sich hin.

"Es ist gefährlich, das allein zu tun. Vielleicht solltest du mit dem König sprechen, damit er dir Hilfstruppen zur Verfügung stellt, um den Mörder zu fangen."

Er wollte gerade die Augen schließen, als er sie weit aufriss. "Der König?" Seine Stimme bebte. "Er wird mir nicht helfen. Er ist derjenige. Er ist es."

Der König ist der Mörder? Das konnte nicht sein.

Angelika lehnte sich vor. "Was meinst du damit?"

"Er ist ein Monster. Er ist der Teufel", sagte er und rollte sich zusammen.

Er wirkte wie ein verängstigtes Kind.

"Vater ...""Frage nicht weiter. Ich will schlafen", sagte er.

Angelika stand auf und verließ den Raum, völlig verwirrt. Warum glaubte ihr Vater, der König sei der Mörder? Warum sollte der König junge Frauen töten?

Etwas stimmte nicht, und Angelika grübelte die ganze Nacht, bis sie einschlief.

Am nächsten Morgen weckte sie ein lauter Schrei. Als sie sich umdrehte, sah sie William, schweißgebadet und keuchend, neben sich. Seine Hand presste er auf seine Brust, seine Augen weit aufgerissen.

Angelika setzte sich auf und nahm ihn in den Arm. "Es ist alles gut. Es war nur ein Alptraum."

Er schüttelte den Kopf. "Nicht länger."

Sie zog sich zurück und sah ihn fragend an.

"Du hast gesagt, meine Alpträume seien nie Wirklichkeit geworden. Weil sie die Zukunft gezeigt haben. Jetzt werden sie wahr. Die Tode, der neue Herrscher, die dunklen Zeiten in unserer Stadt."

Hieß das, dass der König wirklich der Mörder war? Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

"Die Monster, die dich verfolgen", erinnerte er sich an seinen Albtraum über sie. Seine Augen weiten sich vor Entsetzen.

"Du darfst nicht sterben. Sie müssen den Mörder finden", sagte er eilig und stieg aus dem Bett.

"Wohin gehst du?"

"Ich habe heute eine Vorlesung. Ich muss rechtzeitig zum Schloss. Lord Rayven hasst Verspätungen, und ich muss mit ihm reden. Er ist der Lord des Anwesens und somit verantwortlich für die Menschen in unserer Stadt."

Angelika schnaubte. "Seit wann kümmern sich Lords um die Menschen?"

"Lord Rayven ist anders."

"Mag sein, aber das heißt noch lange nicht, dass er sich sorgt. Die Menschen in dieser Stadt halten ihn für den Mörder – warum sollte er ihnen helfen?"

Ihr Bruder hielt inne und dachte nach. "Das ist richtig."

Betroffenheit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

"William, mir wird schon nichts passieren", versicherte sie ihm.

"Dann werde ich mit dem König reden", sagte er entschlossen. "Er hört auf mich."

Der König? Der, von dem ihr Vater annahm, er sei der Mörder. Es war offensichtlich, dass ihr Bruder das nicht glaubte. Und sie selbst ebenso wenig.

"Du glaubst nicht, dass der König der Mörder ist?"

Ihr Bruder zog die Stirn kraus. "Nein."

"Was macht dich da so sicher?", wollte sie neugierig wissen.

"Ich mag ihn. Er kann nicht der Mörder sein", sagte er und verließ dann das Zimmer.

Er mochte ihn?

Angelika konnte kaum glauben, dass ihr Bruder das Wort 'mögen' für jemand anderen als sie verwendete. Sie hätte beinahe deswegen gelächelt.

Beinahe. Denn die Worte ihres Vaters verfolgten sie noch immer und Angelika wollte lieber vorsichtig als leichtsinnig sein. Selbst wenn der König nicht der Mörder war, er war anders. Aber musste 'anders' zwangsläufig 'schlecht' bedeuten? Vielleicht verhielt sie sich einfach wie alle anderen, indem sie ihn verurteilte und deswegen misstrauisch war. Hätte sie ihn auch so behandelt, wenn er nicht anders gewesen wäre?