Kapitel 14

Angelika entschied sich, mit ihrem Bruder zum Schloss zu gehen. Glücklicherweise schlief ihr Vater noch, als sie das Haus verließen, sodass sie die unvermeidliche Strafpredigt erst später über sich ergehen lassen musste. Doch dieses Mal würde sie sich wehren. Falls ihr Vater tatsächlich vorhatte, den König zu ermorden, würde er sie alle in Gefahr bringen.

Aber warum gerade der König? Ihr Vater musste etwas wissen. Er würde doch nicht den Mann verraten, der ihm zu Ansehen und einer besseren Position verholfen hatte, ohne triftigen Grund. Und was war mit den Warnsignalen, die der König ihr gegeben hatte? Das konnte nicht allein daran liegen, dass er anders war. Sie musste ihrem Instinkt vertrauen und dieser sagte ihr, dass der König nicht der Mörder war, aber definitiv auch keine harmlose Gestalt.

Als sie am Schloss ankamen, wurde Angelika nervös. "Wo finden deine Vorlesungen statt?" fragte sie William.

"Die theoretischen Teile haben wir drinnen, aber das Schwerttraining wird sicherlich in den Kasernen stattfinden. Dort gibt es einen großen Hof, wo Ritter und andere Soldaten trainieren können", antwortete William.

Angelika nickte und William führte sie zu den Kasernen. Auf dem Weg dorthin wurden sie von jedem vorübergehenden Soldaten gemustert. Die Männer starrten und manche versuchten sogar, ihr von Weitem zuzulächeln. Solange sie Abstand hielten, störten sie Angelika nicht sonderlich.

Im Trainingshof lag der Geruch von Schweiß und Blut in der Luft. Einige Männer kämpften mit Holzschwertern, andere mit echten Klingen. An einer Ecke beobachtete Angelika einige Jungen beim Training – sie waren etwas älter als ihr Bruder, der eigentlich noch hätte warten müssen. Schon bereute Angelika, ihn mitgebracht zu haben.

Die Blicke vieler Übender wandten sich in ihre Richtung, manche flüsterten sogar, während sie sie ansahen. Ohne es zu bemerken, ließ Angelika ihr Haar nach vorne fallen, um etwas von sich zu verdecken.

"Lady Davis", eine tiefe Stimme ließ sie herumfahren.

Ein Paar obsidianfarbener Augen faszinierte sie und sie erstarrte.

"Ich sehe, Ihr habt Euren Bruder persönlich gebracht", sprach er und sein Blick wanderte zwischen ihr und William hin und her. "Ich übernehme hier."

Angelika blinzelte verdutzt. Wollte er sie fortschicken?

"Ich kann warten", entgegnete sie schnell.

Es war Williams erstes Training und sie wollte sicherstellen, dass alles gut ging.

"Ihr lenkt die Soldaten ab", sagte er ihr, obwohl er selbst kaum von ihr abgelenkt zu sein schien. Er würdigte sie keines Blickes, als wäre sie keine Frau.

"Oh, ich... ich werde an einem anderen Ort warten", stotterte sie, doch er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab.

Er nickte William zu, ihm zu folgen, und ging an Angelika vorbei.

Wie unhöflich, dachte sie.

"Ich warte im Hauptgarten", sagte sie zu ihrem Bruder.

Er nickte und beeilte sich, Lord Rayven zu folgen. Angelika beobachtete sie noch kurz, bevor sie sich zum Gehen entschloss. Die Blicke der Männer verstärkten sich und sie wollte Lord Rayven nicht herausfordern.

Als sie durch die Halle zurück zu den Hauptgemächern ging, traf sie auf den König. Er wurde von zwei seiner Männer begleitet und bemerkte sie. "Angelika."

Die Art, wie er jedes Mal ihren Namen so beiläufig aussprach, brachte sie aus der Fassung.

"Eure Majestät", verbeugte sie sich mit klopfendem Herzen. Sie hielt ihn nicht für den Mörder, weshalb also fühlte sie sich verängstigter als sonst?

Er funkelte sie durchdringend und besorgt an."Haben Sie es gut gehabt?" fragte er.

Sie blickte in seine ruhigen blauen Augen und seine sanfte Miene. Er sah nicht aus wie ein Mörder, aber sie hatte noch nie einen Mörder gesehen, um ihn richtig beurteilen zu können. Ihr Bruder hatte gesagt, dass er ein guter Mensch sei, und das Volk mochte ihn als ihren König. Er war ein guter Herrscher. Er hatte vieles zum Besseren in ihrem Königreich geändert. Könnte das alles nur eine Maske sein für den Mann darunter, oder war das sein wahres Ich?

"Ich hatte es gut, Eure Majestät. Danke der Nachfrage."

Er nickte, musterte sie aber weiterhin auf die gleiche Weise.

"Wenn Sie Probleme oder Anliegen haben, zögern Sie nicht, es mir mitzuteilen." sagte er.

Warum, wollte sie fragen.

"Es gibt da eine Sache, die mir Sorgen macht, Eure Majestät."

Er nickte, um sie zum Fortfahren zu ermuntern.

"Die jungen Frauen werden weiterhin sterben, wenn nichts unternommen wird."

"Wir suchen nach dem Mörder", entgegnete der König knapp, als wollte er nicht mehr Informationen preisgeben. Das ließ ihn verdächtig aussehen.

"Danke", erzwang Angelika ein Lächeln.

"Möchten Sie etwas Tee trinken, während Sie auf Ihren Bruder warten?"

Woher wusste er das?

Nun, es konnte kaum einen anderen Grund für ihr Hiersein geben.

"Ja, gerne", antwortete sie.

Wenn sie vor Sir Shaw fliehen wollte, dann war der König die richtige Anlaufstelle. Sir Shaw könnte sich dem König gegenüber nicht durchsetzen.

Der Garten des Königs war wunderschön und sie bekamen mehr als nur Tee serviert. Angelika liebte Süßigkeiten, also nahm sie welche zu ihrem Tee, doch hauptsächlich beobachtete sie den König. Sie wollte mehr über ihn erfahren, um sich ein endgültiges Urteil bilden zu können. War er der Mörder? War er vertrauenswürdig? Könnte er ihrem Bruder helfen oder vielleicht sogar ihr?

"Sie waren sehr zuvorkommend zu mir und meinem Bruder", fing sie an.

Er betrachtete sie einen langen Moment und Angelika erkannte Traurigkeit hinter seinen Augen. "Ich mag dich und deinen Bruder", sagte er mit einem Lächeln.

Sein Lächeln wirkte gezwungen, aber ihre Empfindung sagte ihr, dass seine Worte ehrlich waren. Er war ein geheimnisvoller Mann.

"Sie haben nicht nach mir fragen lassen", platzte es aus ihr heraus.

Was war nur in sie gefahren? Sie wollte sich selbst ohrfeigen. Warum sollte sie so etwas sagen?

Er lächelte und blickte nach unten. In diesem Moment wirkte er schüchtern und sie fand ihn noch attraktiver als er ohnehin schon war. Sie hätte nie gedacht, dass das möglich sein könne. Der Mann war geradezu makellos.

"Du solltest nicht wollen, dass ich nach dir frage, Angelika", sagte er und betonte dabei das "nicht".

"Warum nicht?" fragte sie.

"Weil ich nicht das bin, wonach ich aussehe oder wer ich zu sein scheine."