Kapitel 15

Angelika spürte die tiefere Bedeutung hinter seinen Worten. Die meisten Menschen waren nicht das, was sie zu sein schienen. Was sie der Welt präsentierten, war verschieden von ihrem wahren Ich. Menschen zeigten der Welt ihre beste Seite oder eben das, was sie der Welt zeigen wollten. Sie inszenierten sich auf eine Weise, die ihnen Vorteile brachte.

Manchmal konnte das Verbergen des wahren Ichs aber auch aus Unsicherheit, Scham oder Angst erfolgen.

Was war der Grund für den König, sein wahres Selbst zu verbergen?

Angelika wollte ihn fragen, was oder wer er wirklich war, aber sie wusste, dass er es ihr nicht sagen würde, wenn er es verbarg. Sie standen nicht nahe genug, dass er sich ihr gegenüber öffnen oder ihr seine Geheimnisse anvertrauen würde.

"Unterscheiden Sie sich sehr von dem, was oder wer Sie zu sein scheinen?", fragte sie stattdessen.

In seinen Augen blitzte ein unbekanntes Gefühl auf, bevor er wieder die gleiche Traurigkeit wie zuvor zeigte. "Das hängt davon ab, wie Sie mich sehen."

"Mein Bruder sagt, Sie seien ein guter Mensch."

Seine Lippen formten ein breites Lächeln. Das machte ihn wahrhaftig glücklich. "Ihr Bruder ist gütig."

Das war er wirklich. Aber er besaß auch eine besondere Gabe. Er konnte das wahre Wesen der Menschen erfassen, schon beim ersten Aufeinandertreffen. Es musste einen Grund geben, warum ihr Bruder den König für eine gute Person hielt.

"Aber Sie denken nicht dasselbe", sagte er, während er den Kopf leicht zur Seite neigte.

Angelika war überrascht von seinen Worten.

Der König lachte leise. "Das ist in Ordnung. Es gibt Gründe, warum Sie und Ihr Bruder nicht vollkommen einer Meinung sind."

Was meinte er damit?

"Ich bin nur vorsichtig, Majestät. Mein Bruder hat außer mir niemanden", erklärte sie.

Er nickte. "Vorsicht ist besser als Nachsicht, vor allem im Umgang mit Adligen. Wie geht es Ihrem Vater?"

Hinter seinen Worten spürte Angelika eine Warnung und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

"Er fühlt sich... etwas unwohl", log sie.

"Richten Sie ihm aus, dass er sich gut erholen kann, bevor er zu seinen Pflichten zurückkehrt. Ich möchte, dass er mit klarem Kopf zurückkommt", seine Stimme hatte diesmal einen autoritativen Klang. Es war das erste Mal, dass er so zu ihr sprach.

Angelika hatte den Eindruck, als wollte er ihr etwas zu verstehen geben. Wusste er von den Plänen ihres Vaters? Würde er es wissen, hätte er sicherlich gehandelt.

"Das werde ich tun, Majestät", erwiderte sie mit pochendem Herzen.

Sollte ihr Vater etwas unternehmen, oder selbst wenn er es nicht täte, der König aber von seinen Vorhaben erfuhr, würden sie alle in Schwierigkeiten geraten. Sie musste dringend mit ihrem Vater sprechen.

Der König nahm seine Tasse und nippte an seinem Tee. Er wirkte fast enttäuscht. Sie konnte das verstehen, denn er hatte ihrem Vater eine höhere Position verliehen, doch statt sich vermehrt anzustrengen, vernachlässigte dieser seine Pflichten.

Die plötzlich aufkommende Stille wurde unbehaglich, und Angelika versteckte sich hinter ihrer Teetasse, trank sie bis zum letzten Tropfen aus. Auch der König hatte seinen Tee beendet. Er stellte seine Tasse ab und wandte sich ihr zu.

"Ich muss zurück zu meinen Pflichten. Sie können gern hier warten, es ist komfortabler. Ich werde Lord Rayven Bescheid geben, dass Sie auf Ihren Bruder warten."

"Das ist nicht nötig", ertönte eine dunkle Stimme.

Als sie sich nach links drehte, sah sie Lord Rayven und ihren Bruder an der Tür stehen. Angelikas Augen weiteten sich, als sie William sah, der mit Schmutz bedeckt und an der Stirn verletzt war.

"Der Junge ist hier", sagte Lord Rayven und gab ihrem Bruder einen sanften Schubs.

"William." Angelika wollte aufstehen und zu ihrem Bruder eilen, als er ihr einen abweisenden Blick zuwarf.Mir geht es gut", sagte er.

Wirklich in Ordnung? Er blutete und war übersät mit Schmutz, und das war nur sein erstes Training. Was würde das nächste Mal passieren?

"Komm her, Krieger", sagte der König und William trat an ihn heran.

Der König griff in die Tasche und zog ein Taschentuch hervor. Sanft wischte er das Blut von der Stirn seines Bruders. Angelika spürte eine Wärme in ihrem Herzen, als sie die beiden beobachtete.

"Du solltest etwas vorsichtiger mit ihm sein, Rayven", mahnte der König.

Angelika warf Lord Rayven unbeabsichtigt einen finsteren Blick zu. Er ignorierte den König und erwiderte ihren Blick, doch seine Lippen verzogen sich anders als zuvor zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. Das verärgerte sie noch mehr. Amüsierte ihn das etwa?

"Es ist nicht seine Schuld. Ich habe ihn darum gebeten, mich hart zu trainieren", sprang William für ihn in die Bresche.

"Du bist sehr ehrgeizig. Das ist zwar gut, aber es kann auch gefährlich sein", erklärte der König ihm.

"Ich strebe weder Ruhm noch Reichtum an. Ich möchte nur stark genug sein, um diejenigen zu beschützen, die mir wichtig sind."

Der König lächelte und nickte anerkennend: "William. Der Beschützer."

"Was bedeutet Ihr Name, Eure Majestät?" erkundigte sich William.

"Beschützer der Menschheit", antwortete der König.

"Dann war es wohl Ihr Schicksal, ein König zu werden", murmelte ihr Bruder, mehr zu sich selbst als zum König.

Angelika hatte den Eindruck, dass ihr Bruder ein weiteres Puzzleteil hinzufügte, und sie brannte darauf, seine Gedanken zu erfahren.

Nachdenklich nickte der König: "Das war es wohl."

Ohne weiter darauf einzugehen, wandte er sich an Lord Rayven. "Ist das Training schon beendet?"

"Für heute ja. Ich war nachsichtig mit ihm", erwiderte Lord Rayven.

"Ihr solltet sie nach Hause eskortieren", befahl der König ihm.

Lord Rayven knirschte mit den Zähnen und fixierte den König. Der König erwiderte den Blick, als forderte er ihn heraus, sich seinem Befehl zu widersetzen.

Seltsam, dachte Angelika, aber es ließ sie vermuten, dass sie einander näher standen, als es schien. Andernfalls würde Lord Rayven es nicht wagen, den König so anzublicken.

"Das werde ich tun, Eure Majestät", sagte Lord Rayven, wobei ein Hauch von Widerwillen in seiner Stimme mitschwang.

Der König schien darüber nur belustigt zu sein. "Lord Rayven wird euch nach Hause geleiten", sagte er, erhob sich.

Angelika stand ebenfalls auf: "Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft, Eure Majestät."

Seine blauen Augen ruhten fest in ihren. "Passt auf euch auf, Angelika."

Er tätschelte ihren Bruder am Kopf, dann drehte er sich um und ging. Angelika beobachtete ihn, wie er sich entfernte. Er war wirklich charmant, und die Art, wie er jedes Mal ihren Namen aussprach, ließ sie glauben, sie kannten einander länger, als es tatsächlich der Fall war.

Doch wer war er? Je mehr sie mit ihm sprach, desto rätselhafter wurde er.

"Sollen wir gehen?" Lord Rayvens tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Er betrachtete sie wieder verächtlich. Sie verspürte den Drang, ihn zu fragen, was sie falsch gemacht hatte, entschied sich jedoch, zu schweigen. So viel Feindseligkeit konnte nicht nur daher rühren, dass sie ihn einmal falsch angesehen hatte. Was war sein Problem?