Raubtier

"Nie hätte ich gedacht, dass meine Frau eine so hervorragende Bogenschützin ist", hallte Gavriels stolze, sanfte Stimme wider, aber Evie regte sich nicht, ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie stand nur da, angespannt, während ihr Herz plötzlich heftig in ihrer Brust zu schlagen begann.

Sie konnte hören, wie die Dienstmädchen und Elias ihn begrüßten. Sie wusste, dass es angebracht gewesen wäre, ebenfalls zu grüßen. Doch Evie war von den aufwallenden Emotionen überwältigt – von Ärger, Heimweh und jenen... ungewollten Gefühlen, die in Gegenwart von Gavriel noch stärker entflammten. Warum? Warum fühlte sie sich so? Was hatte er ihr angetan, dass seine bloße Anwesenheit sie so erschüttern konnte?

Langsam sammelte sich Evie und drehte sich ihm zu, woraufhin er sie anlächelte. Bei dem Anblick seines herzzerreißenden Lächelns, das sie seit der letzten Nacht und den ganzen Tag verfolgte, erstarrte sie.

Reglos bewegte sich Evie nicht und sagte nichts. Sie konnte nicht. Als er jedoch einen Schritt auf sie zu machte, wich sie automatisch zurück, noch bevor ihr bewusst wurde, dass sie es getan hatte.

Die Stirn des Prinzen runzelte sich leicht, sein Lächeln erlosch angesichts ihrer Reaktion. Trotzdem näherte er sich weiter. Diesmal schaffte sie es, ihre Füße fest auf den Boden zu drücken und stand standhaft. Unkontrolliert pochte ihr Herz noch schneller, und sie wurde zunehmend nervöser. Ihr Körper reagierte auf eine Weise, die sie weder erkannte noch mochte.

Doch er blieb drei Schritte vor ihr stehen, als hätte er die Anwesenheit einer anderen Person gespürt. Levy landete hinter ihm und veranlasste ihn, sich von Evie abzuwenden.

"Was gibt es?" fragte er ruhig, während er den Blick wieder Evie zuwandte.

"Eure Hoheit, General Alcan und seine Tochter sind hier", sagte Levy, woraufhin Gavriel leicht überrascht schien.

Es herrschte einen Moment Stille, doch Evie hatte das Gefühl, dass zwischen den Männern eine geheime Unterhaltung stattfand, der sie nicht gewahr werden sollten.

Als Gavriel sich wieder ihr zuwandte und auf ihr Übungsziel blickte, sagte er: "Ich glaube, du hast genug geübt, Liebste. Du solltest dich nun ausruhen. Wir sehen uns zum Abendessen."

Nachdem er das gesagt hatte, verließ Gavriel sofort den Ort. Ein General, der das Schloss des Prinzen um diese Stunde besuchte... wären sie Menschen, würde man diese Zeit als kurz vor der Dämmerung betrachten. General Alcan musste ein sehr wichtiger Gast sein, wenn er Gavriel dazu veranlasste, so eilig zu gehen, dachte sie.

Mit einem Seufzer wandte sich Evie stillschweigend wieder ihrem Ziel zu. Sie war nervös, als er hier war, aber als er ging, hätte sie fast gerufen: "Warte". Sie griff nach ihrem Bogen, nahm einen weiteren Pfeil und holte dann tief Luft.

"Ist...", begann sie zögernd. "Ist General Alcan ein wichtiger Verbündeter seiner Hoheit?" fragte sie, und die Stille der Mägde veranlasste Evie, ihren Schuss zu stoppen und sie über die Schulter anzusehen.

"Nein, gnädige Frau. Die Wahrheit ist...", Fray hielt inne, sichtlich zögerlich. "General Alcan ist als der loyaleste Untergebene des Kaisers bekannt. Er ist Lady Theas Vater."

Evies Augen weiteten sich, und rasch verbarg sie ihr Gesicht vor ihnen. Wieder fühlte sie ihren Puls rasend schnell schlagen, ähnlich wie vor Gavriels Ankunft. Nur war es diesmal wesentlich besorgniserregender. Sie sei froh, dass sie ihnen nicht gegenüberstand, denn sie konnte ihr Gesicht nicht länger gefasst halten.

"Sir Levy sagte, er sei bei seiner Tochter. Er hat nur eine Tochter, und das ist Lady Thea, nicht wahr?" sprach Fray leise zu Gina.

"Oh nein, könnte es sein, dass er hier ist, um darauf zu bestehen, dass seine Hoheit seine Tochter heiratet?" erwiderte Gina.

"Aber der General ist dem Kaiser treu ergeben –"

"Was, wenn der General seine Treue zu Prinz Gavriel schwört, sobald seine Hoheit seine Tochter heiratet?"

"Mein Gott, jetzt wo du es sagst... das ist möglich. Seine Hoheit benötigt wirklich einen Verbündeten –"

Plötzlich zuckten die Dienstmädchen zusammen, als sie Evie ansahen. Ihre Gesichter waren entschuldigend und besorgt. Sie hatten die Angewohnheit, so zu tratschen, bevor ihre Herrin auftauchte, dass sie vergessen hatten, dass ihre Herrin bei ihnen war und das Gespräch klar und deutlich vernehmen konnte.

"Ähm... meine Herrin... das –"

"Fray, Gina...", unterbrach Evie ihre Zofe. "Ich würde gern in jenen kleinen Wald gehen. Ich hörte von dort Vögel singen; ich glaube, ich könnte mit diesem Bogen einen erlegen." Evies Stimme war ungewöhnlich ruhig.

Die Mägde sahen einander an."Ich werde erst einen erlegen, bevor ich in meine Gemächer zurückkehre", sagte sie, als sie die Pfeile aufhob. Mit bestimmtem Gang wandte sie sich dem kleinen Wald in der Nähe zu, den sie zuvor erwähnt hatte.

"Bitte wartet hier auf mich. Ich möchte nicht, dass die Vögel durch zu viele Menschen aufgescheucht und vertrieben werden. Folgt mir nicht. Ich komme zurück, sobald ich einen gefangen habe", sprach Evies Stimme leicht und scheinbar fröhlich. Fray und Gina konnten jedoch nicht sagen, warum, aber sie fanden ihren Ausdruck seltsam.

Noch einmal sahen sich Fray und Gina an, verbeugten sich jedoch gehorsam und beobachteten, wie Evie in den Wald trat. Anfangs waren sie zögerlich, aber als es schien, als ginge es ihr gut, setzten sie sich auf das Gras und warteten.

Kaum war Evie im Wald, verbarg sie sich hinter einem Baumstamm und lehnte sich daran. Sie konnte kaum glauben, wie getroffen sie sich gefühlt hatte, als sie die Worte der Mägde vernahm. Es kam ihr vor, als hätte ein fehlgeleiteter Pfeil sie mitten ins Herz getroffen. Ihre Kehle schnürte sich so eng, dass es körperlich schmerzte, und sie musste, um ihre Gefühle vor den Mägden zu verbergen, leise und kontrolliert atmen.

Wie konnte das sein? Wie war es möglich, dass sie so empfand? Ihre Ehe war nie aus Liebe geschlossen worden. Sie hatte nicht einmal viel Zeit mit ihm verbracht. Es waren erst einige Tage seit ihrer Hochzeit vergangen!

Evie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Die Gefühle, die sie in jenem Moment hatte, erschreckten und belebten sie zugleich. Das Schlimmste war, sie wusste nicht, wie sie mit diesen starken, nie zuvor gefühlten Emotionen umgehen sollte.

Sie legte den Hinterkopf an den Baum, schloss die Augen und versuchte durch gleichmäßiges Atmen ihre Gedanken zu ordnen. Ihre Fäuste an den Seiten waren so fest geballt, als würde sie sich verzweifelt nach der Stärke sehnen, ihr eigenes törichtes, gedankenloses und rebellisches Herz zu verschließen.

Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, füllte Evie ihren Geist mit Bildern der furchteinflößenden Vampire, denen sie zuvor begegnet war. Sie erinnerte sich an den Angriff der Vampire auf ihre Kutsche und die toten Körper ihrer Soldaten – verstümmelt und zerrissen. Dann die Erinnerung an die Soldaten, die geschlagen und blutig vom Krieg gegen die Vampire heimkehrten. Als sie einmal ihre Mutter fragte, wie man solch eine Tragödie verhindern könne, erhielt sie zur Antwort, dass nur die Auslöschung der Vampire eine Lösung wäre.

Evie erschauerte bei dem Gedanken an eine solche Vernichtung. Plötzlich kamen ihr die Gesichter der Vampire in den Sinn, die sie hier gesehen und getroffen hatte. Sie sah ihr Lächeln, wie sie friedlich aßen und tanzten – als wären sie nicht anders als Menschen. Ihre Zähne knirschten.

Als sie merkte, dass ihre Gedanken gefährlich abschweiften, schloss Evie die Augen und seufzte zitternd. Sie griff nach ihrem Bogen und den Pfeilen und sah auf. Ärger spürte sie in sich aufsteigen – Ärger über sich selbst.

Ein prächtiger Vogel tauchte unerwartet auf. Sie erinnerte sich an das, was sie ihren Mägden gesagt hatte. Ein bitteres Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab, als sie den Bogen hob und auf den fröhlich singenden Vogel zielte. Doch sie begann zu zittern. Sie konnte nicht einmal ein Tier erlegen. Zuhause hatte sie begriffen, dass ihr Können im Bogenschießen nutzlos war, weil sie es nicht anzuwenden vermochte. Sie konnte nur auf ein lebloses Ziel schießen.

Plötzlich fühlte Evie den Drang zu weinen. Sie stand dort allein, gefangen in ihren düsteren Gedanken, und bemerkte nicht, wie die Dämmerung einbrach, bis ein Schauer ihren Rücken hinunterlief – einer, der nicht von der Kälte herrührte, sondern von etwas anderem.Sie wirbelte herum und ihre Augen weiteten sich langsam im Schrecken.

Ein Wolf starrte sie an.

Evie erstarrte vor Furcht. Sofort erinnerte sie sich an die Bestien, die Gavriel im dunklen Tal erlegt hatte. Dieser Wolf war zwar nicht so riesig wie jene Ungeheuer, aber definitiv größer und furchteinflößender als die Wölfe, die sie gewöhnlich traf und die sie von zu Hause kannte. Er machte einen Schritt auf sie zu, seine Fangzähne entblößend. Mit dem nächsten trat er knurrend an sie heran, seine roten Augen unverwandt auf sie gerichtet.

Als der Wolf sich bewegte, ließ Evie keinen seiner Schritte aus den Augen. Die Angst überkam sie, doch sie bemerkte, dass sie ihren Bogen gespannt hielt, bereit zum Schießen. Ihr Überlebensinstinkt setzte ein, sie hob ihre Waffe und verlor keine Zeit, sie auf den Wolf zu richten.

Sie wusste nicht, wie es ihr gelungen war, aber ihr Körper schien zu wissen, was zu tun war. Ihre Hände zitterten, ihr Körper war steif, doch als sie den Bogen auf den Wolf richtete, blieb das Tier einen Augenblick reglos, bevor es begann, sie zu umkreisen. Evie verfolgte jede seiner Bewegungen, ohne sich ablenken zu lassen, obwohl sie spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken herunterlief. Sie wusste nicht, was sie noch tun könnte. Schreie um Hilfe hieltesie nach kurzem Überlegen für sinnlos; sie war sich ziemlich sicher, dass der Wolf sie erreichen würde, bevor ihre Mägde zu ihr gelangen konnten.

Ein falscher Schritt und sie wäre verloren. Ihre Hände zitterten weiterhin. Sie zielte auf die Stelle zwischen seinen Augen, doch traf sie in ihrem Zustand überhaupt?

Evie musste fast lächeln – aus Angst und völligem Unglauben. Sie konnte nicht glauben, was hier geschah. Sie hatte sich darauf eingestellt, mit Vampiren fertig zu werden, sich gegen sie zu wehren. Aber das umfasste nicht die Abwehr gegen ein wildes Tier.

Der Wald wurde unheimlich still. Evie hörte nichts außer dem schweren Klopfen ihres Herzens und dem Geräusch ihrer Füße, die sich langsam bewegten, während sie die kreisenden Bewegungen fortsetzen und dem Raubtier folgen musste, das sie umkreiste. War es wirklich ihr Schicksal, in einem fremden Land zu kommen und in den Fängen eines Tieres zu sterben?

Evie schluckte ihre Tränen herunter, und irgendwie beruhigte sich das Zittern ihrer Hände ein wenig. Doch der Wolf, der bedrohlich knurrte, erstarrte plötzlich, und in Evies Kopf läuteten die Alarmglocken. Jetzt würde er angreifen!

Das Zittern begann erneut, als sie vorsichtig einen kleinen Schritt zurück machte. Nein! Nicht doch!

Im nächsten Moment setzte der Wolf an. Die Zeit schien stillzustehen und ehe sie es realisierte, sprang der Wolf auf sie zu. Ihre Lippen öffneten sich und ohne zu wissen warum, sprach sie Gavriels Namen aus, als sie den Pfeil losließ.