Terror

Im Inneren eines luxuriösen Empfangsraums saß Gavriel Thea und dem General gegenüber.

Der General war formell und höflich, doch Gavriel würde niemals den Blick in den Augen des Mannes vergessen, jedes Mal, wenn dieser erhabene General ihn als Jungen ansah, bevor er das Imperium verließ. Wie alle anderen Würdenträger war auch dieser Mann ein dickfelliger Heuchler, der nur das Äußere und politische Gewinne zu beurteilen wusste.

Die Zeit war vergangen, doch der General plapperte immer noch über Belanglosigkeiten, für die sich Gavriel nicht im Geringsten interessierte. Jeder konnte erkennen, dass der robuste General um den heißen Brei herumredete, möglicherweise in der Hoffnung, Gavriels Wohlwollen zu gewinnen oder eine positive Reaktion zu entlocken, bevor er endlich sein eigentliches Anliegen vorbrachte. Doch Gavriel sagte kein Wort. Er wirkte, als wären fast alle Regungen aus seinem attraktiven Gesicht verbannt, bis auf jenen kalten Ausdruck, den seine Männer nur zu gut kannten – jenen unerschütterlichen Ausdruck, der bedeutete, dass es leichter war, einen Berg zu versetzen oder einen Drachen zu töten, als seine Meinung zu ändern.

Elias trat gerade ein, als der General endlich zur Sache kam.

"Prinz Gavriel, ich bin gekommen, um mit Ihnen über Ihre Verlobung mit meiner Tochter Thea zu sprechen. Sie sind der klügste junge Mann, den ich je getroffen habe, daher glaube ich nicht, dass ich die offensichtlichen Gründe nennen muss, warum ich Ihre Heirat mit meiner Tochter beschleunigen möchte. Auch wenn Sie erst kürzlich geheiratet haben...", fuhr der General fort, ohne zu bemerken, dass seine Worte für Gavriel zu einem Hintergrundrauschen geworden waren, in dem Moment als Elias den Raum betrat.

Der Prinz suchte den Blickkontakt zu Elias und fragte ihn als Erstes, ob Elias seine Frau in ihre Gemächer zurückbegleitet hatte. Als Elias ihm eröffnete, dass die Dame darauf bestand, in dem kleinen Wald weiterhin einen Vogel zu jagen, verdunkelte sich Gavriels Miene.

„Willst Du mir also sagen, dass sie immer noch dort ist, und das bis jetzt?", fragte er den Butler mit seinen Blicken und als Elias nickte, erhob sich der Prinz abrupt, was den General überraschte und ihn mitten im Satz stoppen ließ.

Gavriels Blick fiel aus dem Fenster und als er sah, dass es bereits dämmerte, ergriff er seine Jacke und stürmte ohne ein Wort hinaus, als wäre niemand und nichts sonst von Bedeutung, und ließ den General mit offenem Mund fassungslos zurück.

"Eure Hoheit, wohin gehen Sie? Haben Sie überhaupt gehört, was der General soeben sagte?" Es war Zolan, der ihm nachgeeilt war. "Man kann den General nicht einfach so stehen lassen. Er könnte Ihnen eine große Hilfe sein. Was Sie jetzt am meisten brauchen, sind Verbündete …"

Zolan seufzte geschlagen, denn sobald sie ein Fenster erreichten, sprang der Prinz hinab und verschwand ohne ein Wort. Es schien, als hätte er keine andere Wahl, als zurückzugehen und den General zu unterhalten, bis Gavriel beendet hatte, was immer ihn auch so plötzlich fortgetrieben hatte. Obwohl ihm im Hinterkopf fast zu hundert Prozent sicher war, dass es nur um sie gehen konnte.

Unterdessen lag Evie in jenem Moment im kleinen Wald auf dem Boden, gefroren vor Entsetzen. Etwas Schmutziges, Kaltes und Dunkles war auf ihre blasse Haut, ihr Haar und über ihr Kleid gespritzt. Ihr Gesicht, das ohnehin schon marmorartig blass war, wurde noch weißer, als hätte sie jegliches Blut verloren.

Das Biest wurde genau in sein linkes Auge getroffen. Ihr Pfeil flog kraftvoll und steckte nun tief in seinem Augapfel, während eine dunkle zähe Flüssigkeit, die offenbar sein Blut war, herausschoss und das Tier donnernd knurrte und seinen Kopf gewaltig vor ihr schüttelte, in der Hoffnung, dass die Bewegung den Pfeil lösen und fallen lassen würde. Der knochenfrierende Lärm, das blutbedeckte Biest und das überall spritzende dunkle Blut... Evie hatte noch nie solche Urangst verspürt.

Sie hatte das Gefühl, ihre Lungen würden seit dem Moment, in dem das Biest auf sie zusprang, nicht mehr arbeiten und ihr Atem streikte. Ihr ganzer Körper zitterte so, als ob kein einziger Teil ihres Körpers mehr ihr gehorchte.Wenn es ein normaler Wolf gewesen wäre, hätte er schon längst tot sein müssen, und dennoch stand er noch. Es schien fast so, als würde er sich bald selbst heilen – nicht unähnlich der Art, wie Vampire sich regenerieren, wenn sie verwundet werden. Trotz der Angst, die sie aufgefressen hatte, setzten Evies Instinkte und Adrenalin eine Sekunde später ein. Während ihr zitternder Körper blindlings über den Boden kroch, war sie nicht einmal in der Lage, ihren Mund zum Schreien zu öffnen.

Evies pochendes Herz und das Schmerzensgeheul des Tieres waren alles, was sie noch hören konnte, unfähig, ihren Blick von der Bestie abzuwenden. Ihr Körper wusste, würde sie sich umdrehen, um zu fliehen, würde die Bestie sie von hinten attackieren. Ihre bleiche, zitternde Hand berührte einen der vielen Pfeile, die sie mitgeführt hatte, und hastig machte Evie ihre Waffe bereit, zielte erneut auf eine entscheidende Stelle des Tieres.

Als hätte die Bestie eine andere Gefahr gespürt, hielt sie plötzlich inne, und ihr verbliebenes Auge glühte düster, während es Evie ansah. Sie fühlte sich, als würde sie in die Tore der Hölle blicken. Der Schreck, der sie durchfuhr, war unerträglich.

Ein weiterer Pfeil zischte unerwartet durch die Luft. Doch durch ihr unkontrollierbares Zittern traf der Pfeil nicht die Stirnmitte des Tieres, sondern dessen Beine. Evie griff hastig nach einem weiteren Pfeil, immer noch ohne den Blick von der Bestie abzuwenden. Aber bevor sie ihn auf ihren Bogen setzen konnte, knurrte das Tier verärgert auf und sprang – auf sie zu.

Ihr Herz schien einzufrieren, als ob es in Eis eingehüllt sei. Das Nächste, was sie wusste, war, dass sie zu dem riesigen Tier aufblickte, das durch die Luft segelte und im Begriff war, ihr den tödlichen Schlag zu versetzen. Sie wusste nicht, wie es möglich war, dass sie sich noch bewegen konnte. Ihre Hände umklammerten den Pfeil – für den Fall, dass sie die Chance bekäme ihn dem Tier zu stoßen, sobald es sie erreichte. Es war wahrscheinlich nutzlos, aber ihr blieben keine anderen Optionen.

Seltsamerweise landete das Tier nicht, wie sie es erwartet hatte. Der Wolf wurde von etwas getroffen, das wie ein Schwert aussah, welches mitten in der Luft als Speer verwendet wurde, und verschwand dann als unscharfe Erscheinung aus ihrem Blickfeld. Danach hörte sie das Geräusch eines fallenden Baumes aus der Richtung, in die der Körper des Wolfes geflogen war.

Bevor sie begreifen konnte, was geschehen war und ein weiterer Herzschlag verging, hob man sie fest vom kalten Boden auf, auf dem sie gesessen hatte. Etwas Festes, Warmes – eine Präsenz, die Sicherheit ausstrahlte – hielt sie umschlossen.

"Evie!" hörte sie ihren Namen in einem besorgniserregend hektischen Tonfall und als sie blinzelte und Gavriels besorgtes Gesicht sah, war sie wie gelähmt und starrte, bis er ihren Namen erneut rief. "Evie! Ich bin jetzt hier, du bist sicher."

Ihr Herz fing wieder zu schlagen an, doch diesmal holte es die verlorene Zeit nach und raste so schnell, dass ihre Brust schmerzte. "G-gav..."

"Ja. Ich bin hier, meine Frau."

"Bitte bring mich fort von hier..."

Ohne zu zögern hob er sie vom Boden auf, und sie spürte das wohltuende Gefühl, behutsam und zugleich vollständig umfangen zu sein. Sie krallte ihre erstarrten Finger in seine Kleidung, kaum wahrnehmend, dass sie fast atemlos war.

"Evie. Jetzt bist du in Sicherheit, Liebling", flüsterte er, seine Lippen sanft am Rand ihres kalten Ohrs. Sie realisierte nicht einmal, dass Gavriel sie schon auf die wiese am Rande des Waldes niedergelassen hatte, während er sie in den Armen hielt. Seine Hände bewegten sich schnell über ihr Mieder, lösten hastig ihr Korsett.

Es fühlte sich an, als würden ihre Lungen platzen, und egal wie sehr sie sich bemühte, sie schien nicht genug Luft zu bekommen. Und dann klang seine Stimme plötzlich, als käme sie aus weiter Ferne, bevor schließlich alles dunkel wurde.